Warum wählen Eltern das Leben ohne Schule als Bildungsweg für ihre Kinder?
  von Alan Thomas


In den letzten dreißig Jahren ist eine höchst vielfältige, interessante und innovative Bewegung im Bereich der Bildung entstanden, besonders in Großbritannien, Irland, Nordamerika, Australien und Ozeanien. Das "Leben ohne Schule" hat sich von seinen kleinen Anfängen bei den Reichen, den Radikalen und den geographisch Isolierten heute in vielen Ländern zu einem offiziell anerkannten Aspekt der Vielfalt im Bildungswesen entwickelt. Heutzutage kennt beinahe jeder jemanden, dessen Kinder aktuell nicht zur Schule gehen oder in den vergangenen Jahren zu Hause gelernt haben.

Bücher, Zeitschriften, Webseiten, Internetgruppen, Interessenverbände, informelle Netzwerke und Lernmaterialien sind für jeden leicht zugänglich. Die von den frühen Pionieren empfundene Isolation ist nicht mehr präsent und wir haben heute eine florierende Gemeinschaft, die rasch wächst. Es gibt noch viel zu erforschen über die tägliche Praxis des Lebens ohne Schule, doch die jüngsten Forschungsergebnisse haben bereits gezeigt, dass wir  eine Menge lernen können, besonders hinsichtlich des individualisierten Unterrichts und flexiblerer Lernstile. […]

Wie viele unbeschulte Kinder gibt es? In Großbritannien reichen die Schätzungen von 10.000 bis 150.000 oder mehr. Es gibt keinerlei wissenschaftlich gesicherte Basis für diese Zahlen. [...] Was jedoch mit einiger Sicherheit feststeht, ist, dass die Zahl der Kinder, die zu Hause lernen, steigt. "Home Education Advisory Service (HEAS)" und "Education Otherwise (EO)", die nationalen britischen Organisationen für Familien mit unbeschulten Kindern, berichten beide von wachsenden Mitgliederzahlen und einem stetigen Anstieg der Anfragen durch Eltern.

Warum wählen Eltern diesen Bildungsweg für ihre Kinder statt sich für die Schule zu entscheiden? Einige Familien fällen die Entscheidung für das Leben ohne Schule bevor ihre Kinder ins Schulalter kommen, andere dagegen wenden sich ihm nach einer Krise in der Schule zu. Eltern, die ihre Kinder von Anfang an zu Hause unterrichten, sind meistens gut informiert und haben in den Jahren, bevor ihr Kind ins Schulalter kam, viel gelesen und nachgedacht. Sie haben meist festgestellt, dass ihr Kind zu Hause bereits so viel lernt und dies führt dazu, dass sie so weitermachen wollen. Sie haben vielleicht das Gefühl, dass ihr Kind noch nicht bereit ist, in die Schule zu gehen, und wollen es daher für ein paar Jahre zu Hause so weiterlaufen lassen. Einige Familien mit unbeschulten Kindern glauben, dass die moralischen Werte der Schulen nicht akzeptabel sind, häufig aus religiösen Gründen. Es gibt auch libertäre Eltern, die glauben, dass Bildung nichts mit Zwang zu tun haben sollte und dass ihre Kinder die Kontrolle über ihre eigene Bildung haben sollten. Andere äußern sich besorgt über den Wissensstand an Schulen; einige können es sich nicht leisten, ihr Kind auf eine Privatschule zu schicken; andere bekommen für ihr Kind keinen Platz an der Schule ihrer Wahl. Dies sind die häufigsten Gründe, warum immer mehr Eltern ihren eigenen Weg außerhalb des Schulsystems wählen, aber es gibt noch etliche andere Gründe.

Eltern, die ihr Kind von der Schule nehmen, tun dies oft Hals über Kopf. Manchmal tritt nach Jahren des Elends in der Schule eine Krise auf und es besteht Anlaß schnell zu handeln. In diesen Fällen genießen die Eltern nicht den Luxus einer ausgiebigen Vorbereitungphase auf das Leben ohne Schule. Mobbing ist der Grund, den Eltern am häufigsten angeben, wenn sie ein Kind aus der Schule nehmen; in den meisten Fällen sind die Kinder dabei die Opfer, in einigen wenigen Fällen aber auch die Täter. In einigen Fällen haben Kinder von Selbstmord gesprochen, andere haben gar einen Versuch unternommen, sich das Leben zu nehmen. Einige Kinder sind zutiefst unglücklich in der Schule und dies führt zu gesundheitlichen Problemen und Schulphobie. Manchmal haben Kinder mit Handicaps Schwierigkeiten in einer konventionellen Bildungsumgebung, und dies kann zu akuten Problemen führen.

In anderen Fällen kann die Abmeldung von der Schule der Versuch sein, eine Situation in den Griff zu bekommen, in der das Kind akademisch scheitert; einige Kinder kommen nicht mit, während andere schon um Längen weiter sind und nicht genügend gefordert werden. Einige wenige Kinder erfahren selbst von der Möglichkeit des Lebens ohne Schule und bitten ihre Eltern, es versuchen zu dürfen.

Unabhängig davon, aus welchem Grund sich Familien mit unbeschulten Kindern für das Leben ohne Schule entschieden haben, haben sie über Jahre hinweg überall auf der Welt bewiesen, dass es eine gute Alternative ist. [...] Die meisten von uns sind so an die Schule gewöhnt, dass wir sie zumindest für eine wohlmeinende Institution halten, und wir würden nie auf die Idee kommen, dass sie die Rechte der Kinder beeinträchtigt. Wenn man aber einmal in jenem "anderen Land" des Lebens ohne Schule war, sieht man die Schule in einem anderen Licht. Wir sind nicht gegen die Schule, aber unsere Erfahrungen mit dem Leben ohne Schule haben uns einige der Schwächen unseres Schulsystems vor Augen geführt. Schuld an diesen Unzulänglichkeiten sind nicht einzelne Personen, und es sind so grundlegende Dinge, dass man sie meist akzeptiert ohne sie zu hinterfragen. Lassen Sie uns einmal genauer hinsehen.

Nehmen wir eine typische Schulstunde, wie sie jeden Tag stattfindet. Der Lehrer stellt eine Frage und die Kinder, die denken, dass sie die Antwort wissen, melden sich. Der Lehrer lässt sich dann die richtige Antwort sagen und geht zur nächsten über oder, falls die Antwort falsch war, nimmt ein anderes Kind dran. Das ist übliche Unterrichtspraxis im Klassenzimmer. Aber was ist mit all den anderen Kindern, die sich gemeldet hatten? Wenn sie die richtige Antwort wussten, haben sie keine persönliche Rückmeldung bekommen. Wenn ihre Antwort falsch war, hatten sie keine Gelegenheit, beim Lehrer nachzufragen, um zu Verständnis zu gelangen. Und ganz außen vor bleiben all jene, die sich erst gar nicht gemeldet hatten. In den Vorschuljahren können Kinder anderen noch Fragen stellen, sobald sie aber in die Schule kommen, wird ihnen dieses natürliche und grundlegende Lernmittel versagt. Was vor Schulbeginn ihr Recht war, ist jetzt nicht mehr im Angebot, und die Gelegenheit, Fragen zu stellen, nimmt mit jedem Schuljahr ab, weil die Anzahl der Schüler pro Lehrer dann steigt.

Hier ist ein weiteres Beispiel. Der Lehrer gibt der Klasse eine Übungsaufgabe. Die Schüler können um Hilfe bitten, aber der Lehrer kann jedem Kind nur wenig Zeit widmen. Wenn der Lehrer nichts anderes tun würde, hätte er ungefähr neun Minuten pro Tag für jedes einzelne Kind. Mit anderen Worten, obwohl das Kind eigentlich von einem Erwachsenen lernen soll, lernt er oder sie in Wirklichkeit allein. Es gibt keine Gelegenheit für echte Interaktion. […]

Familien mit unbeschulten Kindern haben einige signifikante Vorteile im Vergleich mit der Schule. Ihr Kind kann von der Einzelzuwendung und der Flexibilität profitieren, die das Lernen zu Hause mit sich bringt. Diese Vorzüge kann ein Lehrer im Klassenzimmer nicht bieten und Eltern unbeschulter Kinder stellen häufig fest, dass dadurch eine eventuell fehlende Qualifikation mehr als ausgeglichen wird. Dies soll keine Kritik an der Lehrerzunft sein, denn Lehrer müssen die wirklich schwierige Fähigkeit erlernen, das Lernen von rund 30 Kindern mit unterschiedlichen Fähigkeiten in Einklang zu bringen. Die Kinder im Klassenzimmer sind vermutlich alle unterschiedlich motiviert und lernen in unterschiedlichem Tempo, aber der Lehrer muss sie alle zur gleichen Zeit unterrichten!

Die alleinige Verantwortung für das Lernen seiner Kinder zu übernehmen, mag einem zunächst wie eine nicht zu bewältigende Aufgabe erscheinen, doch die meisten Eltern empfinden das Leben ohne Schule als sehr bereichernd, wenn sie sich einmal eingefunden haben. […] Wir können mit einiger, auf unserer großen Erfahrung basierender Sicherheit sagen, dass wir beinahe niemanden kennen, der es bereut hätte, seine Kinder zu Hause zu unterrichten, ob nun auf kurze oder auf lange Sicht.


© Alan Thomas


Auszug aus "Educating your child at home" von Alan Thomas, übersetzt aus dem Englischen mit freundlicher Genehmigung des Autors von S. Mohsennia.