Zeit, zu lernen
Zeit, zu verstehen
In
Europa steigt die Anzahl der Homeschooler. Anke Caspar-Jürgens
stellt
Praxisberichte aus dem Bulletin der französischen
Homeschooling-Bewegung
vor.
Zu Hause anders lernen ist in Frankreich möglich:
Hier beschreiben französische Familien ihre Erfahrungen mit dem
selbstbestimmten Lernen und wie der Lernerfolg kontrolliert wird.
Abschließend reflektiert eine deutsche Mutter ihre
Schulerfahrungen.
Die
Erfahrungsberichte, die wir hier
vorstellen, sind dem aktuellen
Rundbrief, „Association Loi 1901“ Nr. 52 der französischen
Homeschooling-Organisation Les Enfants d’Abord entnommen. Er wird
reihum von den Familien selbst gestaltet.
„Ich heiße Roselyn und wohne mit meiner Tochter Robyn (11 Jahre)
in Pas-de-Calais am Ärmelkanal. Uns gegenüber liegt Dover.
Seit
zweieinhalb Jahren sind wir Mitglied bei Les Enfants d’Abord. Robyn
hatte sich im September 2002 entschieden, zu Hause zu bleiben. Die
Daseins-Berechtigung der Schule hatte ich zuvor nie in Frage gestellt.
Vielmehr war es meine feste Absicht, dass meine Tochter das Abitur
machen solle, denn meine Schullaufbahn hatte ich schon mit 16 Jahren
beendet, weil meine Eltern seinerzeit verhinderten, dass ich meine
Wunschschule besuchen konnte. Aber meine wichtigste Erkenntnis war
jetzt, dass es keinen besseren Ort für das Lernen und die
Entfaltung
des Kindes gibt als das familiäre Umfeld, wo es geliebt wird und
sich
geborgen fühlt und wo es nicht ständig alle möglichen
Erniedrigungen
erfährt, die scheinbar nötig sein sollen, um einen Charakter
zu formen.
Es gibt Begriffe – in der Schule, in der Arbeit und auch in der
Gesellschaft allgemein – die Robyn und ich nicht zum Teil unseres
Lebens machen wollen. Das sind Konkurrenzkampf, Aggressivität, das
Gesetz des Stärkeren und sozialer und beruflicher Erfolg, der sich
allein auf Geld gründet. Dagegen widmen wir uns all dem, was die
Lebensqualität, die Beziehung zwischen den Menschen, das
körperliche,
das geistige und das seelische Wohlbefinden unterstützt. Damit wir
uns
diesem großen Abenteuer hingeben konnten, hatte ich bis Dezember
2002
meine außerhäusliche Arbeit reduziert und bin ab diesem Jahr
ganz zu
Hause. Von September bis Dezember 2002 haben wir uns zunächst kein
Programm gemacht. Wir hatten nur eine vage Vorstellung, wie wir Robyns
Tage gestalten würden, wir mussten uns erstmal von der Schule
heilen …
Wenn ich daran zurückdenke, wird mir bewusst, wie sehr man diese
Auszeit braucht, während der scheinbar nichts geschieht, die aber
tatsächlich dazu dient, alles Negative, das in der Schule erlebt
wurde
und traumatisierend war, aufzulösen. Jetzt würde ich sagen,
dass man
während dieser Zeit nichts Herausforderndes tun soll, dass man dem
Kind
keinerlei Zeitzwänge auferlegt und es nicht mit schulischen
Arbeiten
bedrängt, sondern ihm im Gegenteil Zeit zum „Nichtstun“ gibt.
Robyn war
immer sehr aktiv, ich habe mich dennoch in dieser langen Zeit sehr
bemüht, nichts von ihr zu fordern. Nach einigen Monaten war die
Lust
wieder da, so viele verschiedene Dinge zu tun, dass wir uns
entschlossen, einen Stundenplan aufzustellen. Dabei folgten wir,
zumindest am Anfang, mehr oder weniger dem Lehrplan der vierten Klasse.
Im Januar lernte Robin Mathematik, Geschichte, Erdkunde,
Naturwissenschaften, Englisch und ein bisschen Spanisch, aber all das
gering dosiert, täglich eine halbe Stunde. Das Wichtigste war
für Robyn
in diesen Tagen das Herumstromern auf dem Bauernhof, das Basteln und
Projekte-Ausdenken, Lesen, Geschichten schreiben und reiten. Wir leben
mit vier Familien auf einem Bauernhof. Es gibt dort andere Kinder, mit
denen Robyn sich spätnachmittags nach der Schule trifft und die
ganzen
Wochenenden verbringt. Die restliche Zeit redet Robyn mit den Reitern,
die täglich kommen, und mit den anderen BewohnerInnen. Gemeinsam
gehen
wir in den Bergen und Wäldern der Umgebung spazieren und
unterhalten
uns stundenlang. Sie bringt mir z.B. die Unterscheidung verschiedener
Löwenzahnsorten bei. (Weil sie immer Futter für die Haustiere
sucht,
kennt sie viele Pflanzen.) Und ich wiederum nenne ihr die Vogelnamen.
Wir beobachten das Schweben des Bussards und das Kreisen des Falken.
Robyn hat inzwischen ein Dutzend Brieffreunde, in Frankreich, in den
USA, in England und in den Niederlanden, sie hat ein kleines Comicheft
gemacht, und zur Zeit ist sie sehr damit beschäftigt, kleine
Häuser
unter den Bäumen zu bauen. Das Homeschooling-Treffen in Ecouen hat
mich
durch die vielen Anregungen noch mehr zum Nachdenken gebracht, so dass
ich mich jetzt immer mehr darauf konzentriere, unsere Welt von allem,
was mit Schule verbunden ist oder was danach aussieht, zu entgiften.
Momentan ist Robyn total unabhängig, was ihr Lernen betrifft. Sie
hat
es gern, wenn ich meinen eigenen Dingen nachgehe, und genießt das
Gefühl, selbstverantwortlich handeln zu können. So haben wir
abgesprochen, dass ich ab dem nächsten Jahr wieder halbtags
arbeiten
werde. Wenn ich sehe, was aus ihr geworden ist, was soll ich dazu noch
sagen?“
Was ist jetzt anders?
Das folgende Gespräch zwischen Tochter Robyn und Mutter Roselyne
zeigt anschaulich, wie sich die veränderte Lern- und
Lebenssituation
für beide anfühlt.
"Robyn: Ich hatte einfach genug davon, immer auf dem Stuhl
zu sitzen. Während ich mich jetzt frei bewegen und Pausen machen
kann,
wie ich es brauche, endlich! Jetzt muss ich nicht mehr fragen, wenn ich
auf die Toilette muss, das fand ich nämlich auch lächerlich.
Wenn ich
z.B. dich etwas fragen möchte, muss ich nicht mehr stundenlang den
Finger heben.
Roselyne: Und was hat sich für uns beide verändert?
Robyn: Na ja, einfach, dass wir jetzt mehr Zeit zusammen
haben. Außerdem muss ich abends keine Hausaufgaben machen, wenn
ich
schon ganz erledigt bin.
Roselyne: Du warst also erledigt, als du zur Schule gingst?
Robyn: Na klar, oft kam ich heulend zurück. Ich hab da oft
Scheißtage erlebt, vor allem mit A., der mich herumstieß
und auch mit
L.! Und die Jungs aus der 4. Klasse!
Roselyne: Findest du es eigentlich lästig, zu Hause lernen
zu müssen?
Robyn: Nein, weil ich es hier langsam machen kann, ohne einen
Lehrer, der mich anblafft, sobald ich einen Fehler mache.
Roselyne: Du verbringst jetzt mehr Zeit draußen als bei
deinem Lernen …
Robyn: Hmm, ja, schon, mit Rachel und Hughes, wenn die beiden
von der Schule kommen.
Roselyne: Langweilst du dich, wenn sie nicht da sind?
Robyn: Ach nein, mich kann man in ein leeres Zimmer stecken,
ich finde immer etwas zu tun, entweder in meinem Kopf oder mit Sachen.
Ich habe immer was zu malen zu schreiben oder fernzusehen.
Roselyne: Was gefällt dir daran am meisten, dass du nicht
zur Schule gehst?
Robyn: Ich fühle mich daheim einfach wohler. Es macht mir
Spaß, so zu arbeiten. Ich schreibe gern, ich arbeite gern in
meinen
Heften. Ich mag Grammatik, meinen Wortschatz erweitern. Mein
Lieblingsfach ist Französisch. Übrigens sollten wir mal
wieder ein
Diktat machen, dazu hätte ich jetzt Lust. Ich mag es, dass ich
selbst
entscheiden kann, was ich mache und wann ich es tue. In der Schule war
das erste, was morgens dran kam, Mathe. Ich hatte noch Ringe unter den
Augen und war total müde, das war furchtbar. Wenn es wenigstens
später
am Tag dran gewesen wäre!
Roselyne: Was mir gefällt ist, dass wir jetzt so viel Zeit
miteinander verbringen.
Robyn: Ja, vorher haben wir uns kaum gesehen, wir haben
gegessen, geschlafen und haben nur abends und morgens miteinander
gesprochen.
Ich habe jetzt Zeit, nachzudenken, wenn ich etwas nicht verstehe.
Zusammen mit einem Lehrer hat man keine Zeit, zu verstehen.
Außerdem –
mit dir kann man Mathe machen und sich dabei auch noch amüsieren.
Roselyne: Ja, wir haben da eine Lösung gefunden. Wir machen
Mathematik zusammen und haben so keine Angst mehr davor. Es ist nicht
nötig, dass man leiden muss, wenn einem etwas beigebracht wird.
Robyn: Früher überkam mich schon die Angst vor Zahlen
und
Ziffern, wenn ich sie nur auf einem Blatt zu Gesicht bekam, selbst wenn
es nur einfache Aufgaben waren. Dann stiegen mir die Tränen hoch.
Roselyne: Was hat sich verändert in deinen Beziehungen zu
den anderen?
Robyn: Also, es gibt schon mal keine Mädchen mehr, die mich
nerven und an mir kleben, dadurch stresse auch ich weniger herum, und
ich habe seitdem weniger Probleme mit meiner Haut. Du weißt
schon,
meine Schuppenflechte und das Ekzem. Jedenfalls bin ich jetzt nicht
mehr gestresst und bin in guter Form.
Roselyne: Wenn du alles noch mal neu entscheiden würdest,
was wäre dann?
Robyn: Ich würde niemals wieder in die Schule gehen.
Roselyne: Hast du Lust, die Fernschule für Homeschooler zu
machen?
Robyn: Nein, ich will einfach anders lernen.“
Lernkontrolle ohne Angst?
Die Homeschooling-Kinder von Les Enfants d’Abord melden sich einmal
im Jahr zu einer Kontrolle an. Roselyne berichtet über ihre
Erfahrung:
„Unsere Kontrolle fand am 21. Januar statt. Der Bezirksinspektor
in der benachbarten Stadt hatte uns für 16 Uhr einen Termin in
seinem
Büro gegeben. Obwohl wir zu früh kamen, hat er uns sofort
empfangen,
und wir haben uns 50 Minuten lang unterhalten. Wir hatten alle Arbeiten
von Robyn mitgebracht, einschließlich der vielen Handarbeiten,
wie auch
die Hefte, die sie bearbeitet hatte. Ich habe fast die ganze Zeit
gesprochen und er hat fast nichts gesagt. Er hat nur bemerkt, dass sie
keine Grammatik gemacht hätte und dass sie, wenn sie wolle, schon
jetzt
den Aufnahmetest für die 6. Klasse machen könne (Vielen Dank,
aber
bloss das nicht!). Er hat sehr lange in ihrem Matheheft gelesen und in
einigen wenigen Diktaten. Er hat das Fotoalbum von unserer
Theatergruppe durchgeblättert, Robyn zwei Fragen nach ihren
Vorlieben
gestellt und nach dem Buch gefragt, das sie zuletzt gelesen hat.
Nachdem wir ihm versprochen haben, ein bisschen mehr Grammatik zu
machen, hat er sich von uns verabschiedet. Seitdem haben wir nichts
mehr von ihm gehört. Im nächsten Jahr werde ich ihn nach
seinem Namen
fragen. Ich werde ihn zu einer unserer Theateraufführungen
einladen,
und ich werde mit ihm über selbstbestimmtes Lernen sprechen.“
In Frankreich hat der Staat wie überall die Aufsichtspflicht zu
erfüllen, dass das Lernen von Kindern gewährleistet ist. Wie
wäre dies
optimal zu erfüllen? Durch ein Angebot unterstützender
Begleitung von
selbstbestimmtem Lernen, wie es z.B. in Teilen von Australien sehr
erfolgreich praktiziert wird (dort heißt es: „Homeschooler sind
fast
immer viel weiter!“)? Durch eine Feststellung, ob die ca.
14-Jährigen
(8. Klasse) ein Mindestwissen nachweisen, das sie als Bürger
handlungsfähig macht, wie in Dänemark (siehe KursKontakte Nr.
128)?
Oder indem der Zuhauselernende jährlich geprüft wird, ob sein
Kenntnisstand auch den Richtlinien staatlicher Schulen entspricht? In
Frankreich gibt es einen großen Ermessensspielraum für die
beauftragten
Inspekteure. In der Regel ist ihnen das selbstbestimmte Lernen fremd,
so dass sie sich an den staatlichen Richtlinien orientieren (siehe
„Denn mein Leben ist Lernen“, von Olivier Keller, Mit Kindern Wachsen
Verlag).
Mit dem folgenden Artikel aus dem Rundbrief Nr. 51 bietet Jennifer
Fandard Homeschooling-Eltern in Bedrängnis Hilfestellung an:
Wie können wir das Lernen unserer Kinder dokumentieren?
„Beim Treffen von Les Enfants d’Abord in Ecouen haben wir uns mit
den Möglichkeiten auseinandergesetzt, wie man das, was unsere
Kinder
tagtäglich machen, aufzeichnen kann. Das hat seinen Sinn aus
mehreren
Gründen: Wir haben manchmal den Eindruck, dass unsere Kinder beim
Lernen nicht vorankommen, oder es gibt Momente, wo wir den Eindruck
haben, dass nichts vorangeht. Wenn wir dann in die Aufzeichnung ihrer
Tätigkeiten schauen, sehen wir oft, dass es zu unserer
Überraschung im
Gegenteil Fortschritte gegeben hat. Ein anderer wichtiger Aspekt ist,
einen Tätigkeitsbericht vorweisen zu können, wenn eine
Inspektion
ansteht. Ein regelmäßig geführtes Tagebuch und eine
detaillierte
Auflistung aller Tätigkeiten werden dem Inspektor vor der
Evaluation
geschickt. Die Darstellung konkreter Aktivitäten oder Lerninhalte
dienen als Beweismittel für Lernerfolge und erleichtern den Dialog
mit
dem Inspektor. Diese Art der Vorbereitung vermeidet den Rückgriff
auf
schulische Tests, die nicht dem tatsächlichen Lernablauf des
Kindes
entsprechen würden. (Wir erinnern uns: das Gesetz verpflichtet uns
nicht zur Einhaltung des staatlichen Lehrplans unter der Bedingung,
dass ein Fortschritt zu verzeichnen ist, der auf lange Sicht das
vergleichbare Niveau eines beschulten Kindes erreicht!)
Eine gute Methode der Aufzeichnung ist z.B. das Tagebuch: Auf der
linken Seite wird jeden Tag notiert, was gemacht wurde. Jedes Fach hat
eine eigene Farbe. Auf der rechten Seite werden Schriftstücke,
Fotos
von Werkstücken, Rechenübungen, Eintrittskarten,
Informationsbroschüren
von Besichtigungen und Erlebnisberichte eingeklebt. Ein Portfolio ist
ein von der AQED (Verein für Homeschooling in Quebec) empfohlenes
Dokumentationsmittel. Man hebt darin alles auf, was das Kind macht:
Schriftstücke, Aufsätze, Zeichnungen, Übungen, Fotos von
Werkstücken
des Kindes, Eintrittskarten vom Kino, Museen etc., und man sammelt sie
anschließend in einem Hefter, nach verschiedenen Themen sortiert.
Eine
weitere Möglichkeit ist ein Tätigkeitsheft, in dem in
regelmäßigen
Abständen alle schulischen oder außerschulischen
Aktivitäten, wie
pädagogische Fernsehsendungen, Ausflüge,
Gruppenunternehmungen, Einzel-
oder Gruppenunterricht, aufgezeichnet werden. Wenn man diese Berichte
erstellt, ist es hilfreich, sich an den Vorschriften über die
Lerninhalte, die nicht beschulte Kinder erreichen sollen, zu
orientieren. Für Französisch z.B. lautet ein Lernziel
„selbständiges
Lesen verschiedener Texte“. Dazu könnte man dokumentieren: „Das
Kind
hat dieses oder jenes Buch, Artikel, Zeitung, Comic etc. gelesen.“
Für
literarische Bildung: „Dieses oder jenes Werk wurde vom Kind gelesen
oder durchgearbeitet, das Kind hat ein Theaterstück gesehen …“.
Für den
mündlicher Ausdruck: „Tägliche Gespräche in der Familie
zu
verschiedenen Themen, die Teilnahme des Kindes an einem Theaterkurs
etc.“. Es ist wichtig, dass das Kind den Bericht liest, bevor er
verschickt wird, damit sichergestellt ist, dass es mit dem Inhalt
einverstanden ist. Vor der Inspektion kann man den Bericht mit dem Kind
noch mal durchlesen und alles durchgehen, was in seinem Ordner, seinem
Portfolio oder seinem Tätigkeitsheft ist, bevor es sich mit dem
Inspektor unterhält. Ich habe dieses Verfahren gerade für die
Inspektion meines 13-jährigen Sohnes ausprobiert. Wir haben das
Gefühl,
dass diese Vorbereitung sehr hilfreich war.“
Wer mit der französischen Homeschooling-Organisation Kontakt
aufnehmen möchte, kann sich wenden an: Les Enfants d’ Abord,
Secrétariat, 2 impasse Durot, F-02130 Villers Agron Aiguizy,
Tel.
(0033) (323) 69 4120.
Eltern in Deutschland
Wie geht es Eltern in Deutschland, deren große Kinder das
Schulleben bereits hinter sich haben und die sich nun wegen ihrer
Nachgeborenen erneut mit Schule auseinanderzusetzen haben? Im Folgenden
berichtet Katja Funke über ihre Gedanken zu 10 Jahren
Schulerfahrung
und dem Lernen von Kindern zu Hause. Wir freuen uns über
Zuschriften
von KursKontakte-Lesern, die zu diesem Thema eigene Erfahrungen haben.
„Meine erstgeborene Tochter Linnea habe ich zur Schule geschickt. Schon
vor den Herbstferien war für sie klar: Das war es nicht, worauf
sie
sich gefreut hat. Sie spürte bald, es gab da kein Interesse an ihr
als
ganzer Person, und sie verlor ihr Interesse am Geschehen . Viel Zeit
nimmt sich die Schule fürs Einsortieren von Leistungsständen,
von
Kindern, des Lernstoffes. Außerdem wird bestempelt und
aussortiert.
In der fünften Klasse bat ich die Englischlehrerin nach Hause zum
Gespräch in Linneas Zimmer, damit sie mehr erfassen könne,
mit wem sie
es zu tun hat. Mit leisem Bedauern meinte sie, nicht jedem Kind
könne
ja so begegnet werden, wie hin und wieder ein spezielles Kind es
brauche, um erfolgreich lernen zu können. Sie habe den Eindruck,
Linnea
sei ein tief empfindsamer und künstlerischer Mensch, es täte
ihr leid,
aber sie selbst habe großen Druck, den Stoff durchzubringen.
Wichtig
sei, dass das Englischbuch am Jahresende durch sei. Also? Fünf
Schulwechsel auf der Suche nach dem System, in dem sie gut lernen kann,
indem ihr Potenzial als Fundament für ihre Bildungsfähigkeit
und ihren
Bildungshunger geschätzt wird. Die Erfahrung zeigte, dass es darum
in
den Schulen nicht ging. Sporadisch geht es dort schon um das Kind, das
man gerade vor sich hat, besonders wenn es Ärger macht. Linnea
machte
keinen. Nachdem für mich erkennbar war, dass das Schulsystem nicht
vorsieht, jeden einzelnen Menschen als Individuum mit wunderbar
unterschiedlichen Fähigkeiten zu erkennen, zu helfen, sie zu
entwickeln, und ihnen dazu den großen Schatz jahrzehntelang
angesammelten Wissens zu eröffnen, blieb mir damals nur, dies zu
akzeptieren und zu tun was ich für richtig hielt. In einer
homogenen
Klasse, in der viele das Gleiche akzeptieren und sich
erwartungsgemäß
verhalten, geht es nicht um die Frage, wer ich bin und wohin ich will,
bzw. wer die anderen sind und wohin wir gemeinsam wollen, sondern um
Anpassung. Also versuchte ich, meine Tochter mit Lob und Bestechungen,
mit Drohungen und Ermutigung dem Schulalltag anzupassen, und bei jedem
Innehalten kamen mir die Tränen. Irgendetwas stimmte nicht. Das
sagten
manche Lehrer auch, allerdings über das Kind. Manchmal schaltete
sie
einfach ab.
Sie war nicht mehr da und gab ihren Geist auf in einer Umgebung,
in der er nicht geschätzt wurde. Linnea ist ein geniales Kind,
sagte
ihr Klassenlehrer, und meinte eigentlich: Sie braucht etwas anderes.
Aber was, was? Zwei meiner fünf Kinder haben ihre Schullaufbahn
noch im
Ganzen vor sich, eineinhalb und dreieinhalb Jahre sind sie jetzt alt.
Sie haben mutigere Eltern als die Ersten, und das, was wir gerade tun,
ist: zu Hause lernen. Das, was ich an ihnen sehe, kenne ich schon von
der Zeit, als die Großen noch klein waren. Quirlige, die ganze
Welt
meinende Forscher, mit einem anscheinend nie ermüdenden Geist:
Abends
nach dem Gutenachtlied verkündet Noomi die gerade erfasste letzte
Tageserkenntnis: „Mama! Wenn ich dusche, dann läuft das Wasser
hier
runter, hier draußen (streicht sich über Arm und Bein), aber
wenn ich
trinke, dann läuft es hier rein in den Mund, ganz drin runter und
küsst
sich mit dem Blut.“ Sie wollen immer etwas erfahren und richten ihre
Augen auf mich mit solcher Selbstverständlichkeit bei allen
Fragen,
zufriedenstellenden Lösungen und gewonnenem Wissen, dass ich all
das,
was sie für sich wollen, von ganzem Herzen auch für sie will.
Sie
stehen morgens auf und zählen die Spinnenbeine eines freundlichen
Anschauungsexemplars unterm Fensterbrett. Danach eine Weile Stille:
Aber unser Schwein hat nicht so viele?! Daraus ergibt sich für den
Rest
des Morgens ein Spinnen-Schweine-Vergleich bis in die Eingeweide. Und
so ist es jeden Tag! Sie wollen einfach lernen, indem sie das, was
ihnen begegnet, verstehen.
Ich habe jetzt Mappen angelegt, um nicht zu vergessen, welche
Themen sie mir schon vorgelegt haben. Da wir gerade mal im
Kopffüßlerstadium stecken, stammen Beschriftungen und
Zeichnungen von
mir. Außer z.B. die Blindschleiche, die in einem großen,
grünen
Versteck liegt, „da kann man sie nicht sehen“, aber die kringelbunten
Schnecken drumherum und die fingerdicken Regenwürmer, die konnten
sie
malen.
Schnell zum Internet springen, um mir meine Antworten zu
vervollständigen, auf dem Flohmarkt die Kinderbibliothek erweitern
und
nur wach genug sein und schauen wohin ihr Wissensdurst uns führt –
das
ist wesentlich geworden in diesem erkenntnisreichen Sommer. Was immer
sie an einem Tag lernt, erfasst Noomi wie mit beiden Händen, man
sieht
es in ihrem Gesicht, wie sie es bewegt und welche Bedeutung was
für sie
hat.
Die Qualität dieses Lernens will ich für die Kinder nicht
mehr
missen. Es ist so offensichtlich, so sollten sie lernen, selbstangeregt
und selbst angetrieben, mit Geschwistern, Erwachsenen und Freunden, die
mitentdecken, antworten und zu neuen Fragen beflügeln. Noomi
besucht
oft Linnea. Die hat sich verliebt und mit ihrem Freund im Frühling
ein
Baby bekommen. Zur Realschule geht sie nicht mehr, und seitdem tut sie,
wofür ihr Herz schlägt. Sie gestaltete und richtete ihre neue
Wohnung
ein, sie bekam ihr Baby zu Hause und hat sich auf ihren eigenen Weg
gemacht. Was tun, wenn Noomi „schulpflichtig“ wird? Sie wird lernen bis
dahin, jeden Tag, zu jeder Zeit interessiert an irgendwas. Es gibt eine
große Vielfalt in den Tätigkeiten, die sie selbst aussucht,
Zeiten des
intensiven Zuhörens, des vollen Körpereinsatzes (Kuck mal was
ich
kann!), der unermüdlichen Übungen auf dem Fahrrad und Zeiten,
um zur
Ruhe zu finden (Ich bin nicht müde, aber du kannst mich ein
bisschen
massieren an den Füßen!). In einer kleine Gruppe werden wir
lehren und
lernen, mit und vom Wissensdurst unserer Kinder – und wenn sie dann
sechs oder sieben sind, mal schauen. Den weiten Raum der
Bildungsfreiheit, in dem die persönliche und selbstangestrebte
Entwicklung unserer Kinder jetzt Fundament ist für jedes Lernen,
ist
ein Gut, das ich nicht noch einmal leichtfertig eintauschen werde gegen
Erste-Klasse-Pflicht. Schule zu Hause sollte das gleiche Recht und
dieselbe staatliche Unterstützung erfahren wie zentrale Schulen.
So
würden wir einen neuen Freiraum schaffen, der die Bildung unserer
Kinder auf vielfältige Weise zulässt, ja wünscht, auf
dass die
Möglichkeit wächst, zu einer tiefen Demokratie beizutragen,
in der
jeder einzelne entscheiden kann, wie er sich bildet.´
Erschienen in: KursKontakte,
Nr. 129, Oktober/November 2003
Bundesverband
Natürlich Lernen e.V.: Artikel in KursKontakte