Zeit, zu lernen
Zeit, zu verstehen

In Europa steigt die Anzahl der Homeschooler. Anke Caspar-Jürgens stellt Praxisberichte aus dem Bulletin der französischen Homeschooling-Bewegung vor.

Zu Hause anders lernen ist in Frankreich möglich: Hier beschreiben französische Familien ihre Erfahrungen mit dem selbstbestimmten Lernen und wie der Lernerfolg kontrolliert wird. Abschließend reflektiert eine deutsche Mutter ihre Schulerfahrungen.

Zeit zu verstehenDie Erfahrungsberichte, die wir hier vorstellen, sind dem aktuellen Rundbrief, „Association Loi 1901“ Nr. 52 der französischen Homeschooling-Organisation Les Enfants d’Abord entnommen. Er wird reihum von den Familien selbst gestaltet.

„Ich heiße Roselyn und wohne mit meiner Tochter Robyn (11 Jahre) in Pas-de-Calais am Ärmelkanal. Uns gegenüber liegt Dover. Seit zweieinhalb Jahren sind wir Mitglied bei Les Enfants d’Abord. Robyn hatte sich im September 2002 entschieden, zu Hause zu bleiben. Die Daseins-Berechtigung der Schule hatte ich zuvor nie in Frage gestellt. Vielmehr war es meine feste Absicht, dass meine Tochter das Abitur machen solle, denn meine Schullaufbahn hatte ich schon mit 16 Jahren beendet, weil meine Eltern seinerzeit verhinderten, dass ich meine Wunschschule besuchen konnte. Aber meine wichtigste Erkenntnis war jetzt, dass es keinen besseren Ort für das Lernen und die Entfaltung des Kindes gibt als das familiäre Umfeld, wo es geliebt wird und sich geborgen fühlt und wo es nicht ständig alle möglichen Erniedrigungen erfährt, die scheinbar nötig sein sollen, um einen Charakter zu formen. Es gibt Begriffe – in der Schule, in der Arbeit und auch in der Gesellschaft allgemein – die Robyn und ich nicht zum Teil unseres Lebens machen wollen. Das sind Konkurrenzkampf, Aggressivität, das Gesetz des Stärkeren und sozialer und beruflicher Erfolg, der sich allein auf Geld gründet. Dagegen widmen wir uns all dem, was die Lebensqualität, die Beziehung zwischen den Menschen, das körperliche, das geistige und das seelische Wohlbefinden unterstützt. Damit wir uns diesem großen Abenteuer hingeben konnten, hatte ich bis Dezember 2002 meine außerhäusliche Arbeit reduziert und bin ab diesem Jahr ganz zu Hause. Von September bis Dezember 2002 haben wir uns zunächst kein Programm gemacht. Wir hatten nur eine vage Vorstellung, wie wir Robyns Tage gestalten würden, wir mussten uns erstmal von der Schule heilen … Wenn ich daran zurückdenke, wird mir bewusst, wie sehr man diese Auszeit braucht, während der scheinbar nichts geschieht, die aber tatsächlich dazu dient, alles Negative, das in der Schule erlebt wurde und traumatisierend war, aufzulösen. Jetzt würde ich sagen, dass man während dieser Zeit nichts Herausforderndes tun soll, dass man dem Kind keinerlei Zeitzwänge auferlegt und es nicht mit schulischen Arbeiten bedrängt, sondern ihm im Gegenteil Zeit zum „Nichtstun“ gibt. Robyn war immer sehr aktiv, ich habe mich dennoch in dieser langen Zeit sehr bemüht, nichts von ihr zu fordern. Nach einigen Monaten war die Lust wieder da, so viele verschiedene Dinge zu tun, dass wir uns entschlossen, einen Stundenplan aufzustellen. Dabei folgten wir, zumindest am Anfang, mehr oder weniger dem Lehrplan der vierten Klasse.

Im Januar lernte Robin Mathematik, Geschichte, Erdkunde, Naturwissenschaften, Englisch und ein bisschen Spanisch, aber all das gering dosiert, täglich eine halbe Stunde. Das Wichtigste war für Robyn in diesen Tagen das Herumstromern auf dem Bauernhof, das Basteln und Projekte-Ausdenken, Lesen, Geschichten schreiben und reiten. Wir leben mit vier Familien auf einem Bauernhof. Es gibt dort andere Kinder, mit denen Robyn sich spätnachmittags nach der Schule trifft und die ganzen Wochenenden verbringt. Die restliche Zeit redet Robyn mit den Reitern, die täglich kommen, und mit den anderen BewohnerInnen. Gemeinsam gehen wir in den Bergen und Wäldern der Umgebung spazieren und unterhalten uns stundenlang. Sie bringt mir z.B. die Unterscheidung verschiedener Löwenzahnsorten bei. (Weil sie immer Futter für die Haustiere sucht, kennt sie viele Pflanzen.) Und ich wiederum nenne ihr die Vogelnamen. Wir beobachten das Schweben des Bussards und das Kreisen des Falken. Robyn hat inzwischen ein Dutzend Brieffreunde, in Frankreich, in den USA, in England und in den Niederlanden, sie hat ein kleines Comicheft gemacht, und zur Zeit ist sie sehr damit beschäftigt, kleine Häuser unter den Bäumen zu bauen. Das Homeschooling-Treffen in Ecouen hat mich durch die vielen Anregungen noch mehr zum Nachdenken gebracht, so dass ich mich jetzt immer mehr darauf konzentriere, unsere Welt von allem, was mit Schule verbunden ist oder was danach aussieht, zu entgiften. Momentan ist Robyn total unabhängig, was ihr Lernen betrifft. Sie hat es gern, wenn ich meinen eigenen Dingen nachgehe, und genießt das Gefühl, selbstverantwortlich handeln zu können. So haben wir abgesprochen, dass ich ab dem nächsten Jahr wieder halbtags arbeiten werde. Wenn ich sehe, was aus ihr geworden ist, was soll ich dazu noch sagen?“

Was ist jetzt anders?

Das folgende Gespräch zwischen Tochter Robyn und Mutter Roselyne zeigt anschaulich, wie sich die veränderte Lern- und Lebenssituation für beide anfühlt.
"Robyn: Ich hatte einfach genug davon, immer auf dem Stuhl zu sitzen. Während ich mich jetzt frei bewegen und Pausen machen kann, wie ich es brauche, endlich! Jetzt muss ich nicht mehr fragen, wenn ich auf die Toilette muss, das fand ich nämlich auch lächerlich. Wenn ich z.B. dich etwas fragen möchte, muss ich nicht mehr stundenlang den Finger heben.
Roselyne: Und was hat sich für uns beide verändert?
Robyn: Na ja, einfach, dass wir jetzt mehr Zeit zusammen haben. Außerdem muss ich abends keine Hausaufgaben machen, wenn ich schon ganz erledigt bin.
Roselyne: Du warst also erledigt, als du zur Schule gingst?
Robyn: Na klar, oft kam ich heulend zurück. Ich hab da oft Scheißtage erlebt, vor allem mit A., der mich herumstieß und auch mit L.! Und die Jungs aus der 4. Klasse!
Roselyne: Findest du es eigentlich lästig, zu Hause lernen zu müssen?
Robyn: Nein, weil ich es hier langsam machen kann, ohne einen Lehrer, der mich anblafft, sobald ich einen Fehler mache.
Roselyne: Du verbringst jetzt mehr Zeit draußen als bei deinem Lernen …
Robyn: Hmm, ja, schon, mit Rachel und Hughes, wenn die beiden von der Schule kommen.
Roselyne: Langweilst du dich, wenn sie nicht da sind?
Robyn: Ach nein, mich kann man in ein leeres Zimmer stecken, ich finde immer etwas zu tun, entweder in meinem Kopf oder mit Sachen. Ich habe immer was zu malen zu schreiben oder fernzusehen.
Roselyne: Was gefällt dir daran am meisten, dass du nicht zur Schule gehst?
Robyn: Ich fühle mich daheim einfach wohler. Es macht mir Spaß, so zu arbeiten. Ich schreibe gern, ich arbeite gern in meinen Heften. Ich mag Grammatik, meinen Wortschatz erweitern. Mein Lieblingsfach ist Französisch. Übrigens sollten wir mal wieder ein Diktat machen, dazu hätte ich jetzt Lust. Ich mag es, dass ich selbst entscheiden kann, was ich mache und wann ich es tue. In der Schule war das erste, was morgens dran kam, Mathe. Ich hatte noch Ringe unter den Augen und war total müde, das war furchtbar. Wenn es wenigstens später am Tag dran gewesen wäre!
Roselyne: Was mir gefällt ist, dass wir jetzt so viel Zeit miteinander verbringen.
Robyn: Ja, vorher haben wir uns kaum gesehen, wir haben gegessen, geschlafen und haben nur abends und morgens miteinander gesprochen.
Ich habe jetzt Zeit, nachzudenken, wenn ich etwas nicht verstehe. Zusammen mit einem Lehrer hat man keine Zeit, zu verstehen. Außerdem – mit dir kann man Mathe machen und sich dabei auch noch amüsieren.
Roselyne: Ja, wir haben da eine Lösung gefunden. Wir machen Mathematik zusammen und haben so keine Angst mehr davor. Es ist nicht nötig, dass man leiden muss, wenn einem etwas beigebracht wird.
Robyn: Früher überkam mich schon die Angst vor Zahlen und Ziffern, wenn ich sie nur auf einem Blatt zu Gesicht bekam, selbst wenn es nur einfache Aufgaben waren. Dann stiegen mir die Tränen hoch.
Roselyne: Was hat sich verändert in deinen Beziehungen zu den anderen?
Robyn: Also, es gibt schon mal keine Mädchen mehr, die mich nerven und an mir kleben, dadurch stresse auch ich weniger herum, und ich habe seitdem weniger Probleme mit meiner Haut. Du weißt schon, meine Schuppenflechte und das Ekzem. Jedenfalls bin ich jetzt nicht mehr gestresst und bin in guter Form.
Roselyne: Wenn du alles noch mal neu entscheiden würdest, was wäre dann?
Robyn: Ich würde niemals wieder in die Schule gehen.
Roselyne: Hast du Lust, die Fernschule für Homeschooler zu machen?
Robyn: Nein, ich will einfach anders lernen.“

Lernkontrolle ohne Angst?

Die Homeschooling-Kinder von Les Enfants d’Abord melden sich einmal im Jahr zu einer Kontrolle an. Roselyne berichtet über ihre Erfahrung:
„Unsere Kontrolle fand am 21. Januar statt. Der Bezirksinspektor in der benachbarten Stadt hatte uns für 16 Uhr einen Termin in seinem Büro gegeben. Obwohl wir zu früh kamen, hat er uns sofort empfangen, und wir haben uns 50 Minuten lang unterhalten. Wir hatten alle Arbeiten von Robyn mitgebracht, einschließlich der vielen Handarbeiten, wie auch die Hefte, die sie bearbeitet hatte. Ich habe fast die ganze Zeit gesprochen und er hat fast nichts gesagt. Er hat nur bemerkt, dass sie keine Grammatik gemacht hätte und dass sie, wenn sie wolle, schon jetzt den Aufnahmetest für die 6. Klasse machen könne (Vielen Dank, aber bloss das nicht!). Er hat sehr lange in ihrem Matheheft gelesen und in einigen wenigen Diktaten. Er hat das Fotoalbum von unserer Theatergruppe durchgeblättert, Robyn zwei Fragen nach ihren Vorlieben gestellt und nach dem Buch gefragt, das sie zuletzt gelesen hat. Nachdem wir ihm versprochen haben, ein bisschen mehr Grammatik zu machen, hat er sich von uns verabschiedet. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Im nächsten Jahr werde ich ihn nach seinem Namen fragen. Ich werde ihn zu einer unserer Theateraufführungen einladen, und ich werde mit ihm über selbstbestimmtes Lernen sprechen.“

In Frankreich hat der Staat wie überall die Aufsichtspflicht zu erfüllen, dass das Lernen von Kindern gewährleistet ist. Wie wäre dies optimal zu erfüllen? Durch ein Angebot unterstützender Begleitung von selbstbestimmtem Lernen, wie es z.B. in Teilen von Australien sehr erfolgreich praktiziert wird (dort heißt es: „Homeschooler sind fast immer viel weiter!“)? Durch eine Feststellung, ob die ca. 14-Jährigen (8. Klasse) ein Mindestwissen nachweisen, das sie als Bürger handlungsfähig macht, wie in Dänemark (siehe KursKontakte Nr. 128)? Oder indem der Zuhauselernende jährlich geprüft wird, ob sein Kenntnisstand auch den Richtlinien staatlicher Schulen entspricht? In Frankreich gibt es einen großen Ermessensspielraum für die beauftragten Inspekteure. In der Regel ist ihnen das selbstbestimmte Lernen fremd, so dass sie sich an den staatlichen Richtlinien orientieren (siehe „Denn mein Leben ist Lernen“, von Olivier Keller, Mit Kindern Wachsen Verlag).

Mit dem folgenden Artikel aus dem Rundbrief Nr. 51 bietet Jennifer Fandard Homeschooling-Eltern in Bedrängnis Hilfestellung an:

Wie können wir das Lernen unserer Kinder dokumentieren?

„Beim Treffen von Les Enfants d’Abord in Ecouen haben wir uns mit den Möglichkeiten auseinandergesetzt, wie man das, was unsere Kinder tagtäglich machen, aufzeichnen kann. Das hat seinen Sinn aus mehreren Gründen: Wir haben manchmal den Eindruck, dass unsere Kinder beim Lernen nicht vorankommen, oder es gibt Momente, wo wir den Eindruck haben, dass nichts vorangeht. Wenn wir dann in die Aufzeichnung ihrer Tätigkeiten schauen, sehen wir oft, dass es zu unserer Überraschung im Gegenteil Fortschritte gegeben hat. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, einen Tätigkeitsbericht vorweisen zu können, wenn eine Inspektion ansteht. Ein regelmäßig geführtes Tagebuch und eine detaillierte Auflistung aller Tätigkeiten werden dem Inspektor vor der Evaluation geschickt. Die Darstellung konkreter Aktivitäten oder Lerninhalte dienen als Beweismittel für Lernerfolge und erleichtern den Dialog mit dem Inspektor. Diese Art der Vorbereitung vermeidet den Rückgriff auf schulische Tests, die nicht dem tatsächlichen Lernablauf des Kindes entsprechen würden. (Wir erinnern uns: das Gesetz verpflichtet uns nicht zur Einhaltung des staatlichen Lehrplans unter der Bedingung, dass ein Fortschritt zu verzeichnen ist, der auf lange Sicht das vergleichbare Niveau eines beschulten Kindes erreicht!)

Eine gute Methode der Aufzeichnung ist z.B. das Tagebuch: Auf der linken Seite wird jeden Tag notiert, was gemacht wurde. Jedes Fach hat eine eigene Farbe. Auf der rechten Seite werden Schriftstücke, Fotos von Werkstücken, Rechenübungen, Eintrittskarten, Informationsbroschüren von Besichtigungen und Erlebnisberichte eingeklebt. Ein Portfolio ist ein von der AQED (Verein für Homeschooling in Quebec) empfohlenes Dokumentationsmittel. Man hebt darin alles auf, was das Kind macht: Schriftstücke, Aufsätze, Zeichnungen, Übungen, Fotos von Werkstücken des Kindes, Eintrittskarten vom Kino, Museen etc., und man sammelt sie anschließend in einem Hefter, nach verschiedenen Themen sortiert. Eine weitere Möglichkeit ist ein Tätigkeitsheft, in dem in regelmäßigen Abständen alle schulischen oder außerschulischen Aktivitäten, wie pädagogische Fernsehsendungen, Ausflüge, Gruppenunternehmungen, Einzel- oder Gruppenunterricht, aufgezeichnet werden. Wenn man diese Berichte erstellt, ist es hilfreich, sich an den Vorschriften über die Lerninhalte, die nicht beschulte Kinder erreichen sollen, zu orientieren. Für Französisch z.B. lautet ein Lernziel „selbständiges Lesen verschiedener Texte“. Dazu könnte man dokumentieren: „Das Kind hat dieses oder jenes Buch, Artikel, Zeitung, Comic etc. gelesen.“ Für literarische Bildung: „Dieses oder jenes Werk wurde vom Kind gelesen oder durchgearbeitet, das Kind hat ein Theaterstück gesehen …“. Für den mündlicher Ausdruck: „Tägliche Gespräche in der Familie zu verschiedenen Themen, die Teilnahme des Kindes an einem Theaterkurs etc.“. Es ist wichtig, dass das Kind den Bericht liest, bevor er verschickt wird, damit sichergestellt ist, dass es mit dem Inhalt einverstanden ist. Vor der Inspektion kann man den Bericht mit dem Kind noch mal durchlesen und alles durchgehen, was in seinem Ordner, seinem Portfolio oder seinem Tätigkeitsheft ist, bevor es sich mit dem Inspektor unterhält. Ich habe dieses Verfahren gerade für die Inspektion meines 13-jährigen Sohnes ausprobiert. Wir haben das Gefühl, dass diese Vorbereitung sehr hilfreich war.“

Wer mit der französischen Homeschooling-Organisation Kontakt aufnehmen möchte, kann sich wenden an: Les Enfants d’ Abord, Secrétariat, 2 impasse Durot, F-02130 Villers Agron Aiguizy, Tel. (0033) (323) 69 4120.

Eltern in Deutschland

Wie geht es Eltern in Deutschland, deren große Kinder das Schulleben bereits hinter sich haben und die sich nun wegen ihrer Nachgeborenen erneut mit Schule auseinanderzusetzen haben? Im Folgenden berichtet Katja Funke über ihre Gedanken zu 10 Jahren Schulerfahrung und dem Lernen von Kindern zu Hause. Wir freuen uns über Zuschriften von KursKontakte-Lesern, die zu diesem Thema eigene Erfahrungen haben. „Meine erstgeborene Tochter Linnea habe ich zur Schule geschickt. Schon vor den Herbstferien war für sie klar: Das war es nicht, worauf sie sich gefreut hat. Sie spürte bald, es gab da kein Interesse an ihr als ganzer Person, und sie verlor ihr Interesse am Geschehen . Viel Zeit nimmt sich die Schule fürs Einsortieren von Leistungsständen, von Kindern, des Lernstoffes. Außerdem wird bestempelt und aussortiert.

In der fünften Klasse bat ich die Englischlehrerin nach Hause zum Gespräch in Linneas Zimmer, damit sie mehr erfassen könne, mit wem sie es zu tun hat. Mit leisem Bedauern meinte sie, nicht jedem Kind könne ja so begegnet werden, wie hin und wieder ein spezielles Kind es brauche, um erfolgreich lernen zu können. Sie habe den Eindruck, Linnea sei ein tief empfindsamer und künstlerischer Mensch, es täte ihr leid, aber sie selbst habe großen Druck, den Stoff durchzubringen. Wichtig sei, dass das Englischbuch am Jahresende durch sei. Also? Fünf Schulwechsel auf der Suche nach dem System, in dem sie gut lernen kann, indem ihr Potenzial als Fundament für ihre Bildungsfähigkeit und ihren Bildungshunger geschätzt wird. Die Erfahrung zeigte, dass es darum in den Schulen nicht ging. Sporadisch geht es dort schon um das Kind, das man gerade vor sich hat, besonders wenn es Ärger macht. Linnea machte keinen. Nachdem für mich erkennbar war, dass das Schulsystem nicht vorsieht, jeden einzelnen Menschen als Individuum mit wunderbar unterschiedlichen Fähigkeiten zu erkennen, zu helfen, sie zu entwickeln, und ihnen dazu den großen Schatz jahrzehntelang angesammelten Wissens zu eröffnen, blieb mir damals nur, dies zu akzeptieren und zu tun was ich für richtig hielt. In einer homogenen Klasse, in der viele das Gleiche akzeptieren und sich erwartungsgemäß verhalten, geht es nicht um die Frage, wer ich bin und wohin ich will, bzw. wer die anderen sind und wohin wir gemeinsam wollen, sondern um Anpassung. Also versuchte ich, meine Tochter mit Lob und Bestechungen, mit Drohungen und Ermutigung dem Schulalltag anzupassen, und bei jedem Innehalten kamen mir die Tränen. Irgendetwas stimmte nicht. Das sagten manche Lehrer auch, allerdings über das Kind. Manchmal schaltete sie einfach ab.

Sie war nicht mehr da und gab ihren Geist auf in einer Umgebung, in der er nicht geschätzt wurde. Linnea ist ein geniales Kind, sagte ihr Klassenlehrer, und meinte eigentlich: Sie braucht etwas anderes. Aber was, was? Zwei meiner fünf Kinder haben ihre Schullaufbahn noch im Ganzen vor sich, eineinhalb und dreieinhalb Jahre sind sie jetzt alt. Sie haben mutigere Eltern als die Ersten, und das, was wir gerade tun, ist: zu Hause lernen. Das, was ich an ihnen sehe, kenne ich schon von der Zeit, als die Großen noch klein waren. Quirlige, die ganze Welt meinende Forscher, mit einem anscheinend nie ermüdenden Geist: Abends nach dem Gutenachtlied verkündet Noomi die gerade erfasste letzte Tageserkenntnis: „Mama! Wenn ich dusche, dann läuft das Wasser hier runter, hier draußen (streicht sich über Arm und Bein), aber wenn ich trinke, dann läuft es hier rein in den Mund, ganz drin runter und küsst sich mit dem Blut.“ Sie wollen immer etwas erfahren und richten ihre Augen auf mich mit solcher Selbstverständlichkeit bei allen Fragen, zufriedenstellenden Lösungen und gewonnenem Wissen, dass ich all das, was sie für sich wollen, von ganzem Herzen auch für sie will. Sie stehen morgens auf und zählen die Spinnenbeine eines freundlichen Anschauungsexemplars unterm Fensterbrett. Danach eine Weile Stille: Aber unser Schwein hat nicht so viele?! Daraus ergibt sich für den Rest des Morgens ein Spinnen-Schweine-Vergleich bis in die Eingeweide. Und so ist es jeden Tag! Sie wollen einfach lernen, indem sie das, was ihnen begegnet, verstehen.

Ich habe jetzt Mappen angelegt, um nicht zu vergessen, welche Themen sie mir schon vorgelegt haben. Da wir gerade mal im Kopffüßlerstadium stecken, stammen Beschriftungen und Zeichnungen von mir. Außer z.B. die Blindschleiche, die in einem großen, grünen Versteck liegt, „da kann man sie nicht sehen“, aber die kringelbunten Schnecken drumherum und die fingerdicken Regenwürmer, die konnten sie malen.

Schnell zum Internet springen, um mir meine Antworten zu vervollständigen, auf dem Flohmarkt die Kinderbibliothek erweitern und nur wach genug sein und schauen wohin ihr Wissensdurst uns führt – das ist wesentlich geworden in diesem erkenntnisreichen Sommer. Was immer sie an einem Tag lernt, erfasst Noomi wie mit beiden Händen, man sieht es in ihrem Gesicht, wie sie es bewegt und welche Bedeutung was für sie hat.

Die Qualität dieses Lernens will ich für die Kinder nicht mehr missen. Es ist so offensichtlich, so sollten sie lernen, selbstangeregt und selbst angetrieben, mit Geschwistern, Erwachsenen und Freunden, die mitentdecken, antworten und zu neuen Fragen beflügeln. Noomi besucht oft Linnea. Die hat sich verliebt und mit ihrem Freund im Frühling ein Baby bekommen. Zur Realschule geht sie nicht mehr, und seitdem tut sie, wofür ihr Herz schlägt. Sie gestaltete und richtete ihre neue Wohnung ein, sie bekam ihr Baby zu Hause und hat sich auf ihren eigenen Weg gemacht. Was tun, wenn Noomi „schulpflichtig“ wird? Sie wird lernen bis dahin, jeden Tag, zu jeder Zeit interessiert an irgendwas. Es gibt eine große Vielfalt in den Tätigkeiten, die sie selbst aussucht, Zeiten des intensiven Zuhörens, des vollen Körpereinsatzes (Kuck mal was ich kann!), der unermüdlichen Übungen auf dem Fahrrad und Zeiten, um zur Ruhe zu finden (Ich bin nicht müde, aber du kannst mich ein bisschen massieren an den Füßen!). In einer kleine Gruppe werden wir lehren und lernen, mit und vom Wissensdurst unserer Kinder – und wenn sie dann sechs oder sieben sind, mal schauen. Den weiten Raum der Bildungsfreiheit, in dem die persönliche und selbstangestrebte Entwicklung unserer Kinder jetzt Fundament ist für jedes Lernen, ist ein Gut, das ich nicht noch einmal leichtfertig eintauschen werde gegen Erste-Klasse-Pflicht. Schule zu Hause sollte das gleiche Recht und dieselbe staatliche Unterstützung erfahren wie zentrale Schulen. So würden wir einen neuen Freiraum schaffen, der die Bildung unserer Kinder auf vielfältige Weise zulässt, ja wünscht, auf dass die Möglichkeit wächst, zu einer tiefen Demokratie beizutragen, in der jeder einzelne entscheiden kann, wie er sich bildet.´

Erschienen in: KursKontakte, Nr. 129, Oktober/November 2003

Bundesverband Natürlich Lernen e.V.: Artikel in KursKontakte