Ohne Schule lernen
Internationale Studien belegen: Zu Hause lernt sich's besser
Anke Caspar-Jürgens gibt einen Überblick

In verschiedensten Ländern der Welt lernen Kinder in ihrem privaten Umfeld. Ihre Anzahl steigt rasant. Eine Reihe von internationalen Studien beweist, dass ihr Lernen, die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und ihre soziale Integration in der Regel erfolgreicher gelingen als bei Schulkindern.

Bei dem Versuch, die wesentlichen Inhalte der Studien im Deutschen zusammenzufassen, geriet ich an ein Übersetzungsproblem: Was ist eigentlich unter Home Education, HomeSchooling, Unschooling usw. zu verstehen? Welche deutschen Begriffe können diese Inhalte transportieren? Da jede Familie letztlich ihren Weg gemäß ihrer eigenen kulturellen Tradition, ihren sozialen, wirtschaftlichen und sonstigen Bedingungen entwickelt und dieser Weg im Verlauf der familiären Zusammenarbeit, des Zusammenlebens sich auch noch prozesshaft verändert, habe ich mich für eine Bezeichnung entschieden, die übergreifend für alle Varianten stehen soll: "Bildung zu Hause". Dieser Begriff beinhaltet den gesamten Prozess des physischen, emotionalen und intellektuellen Lernens eines Menschen in und mit seinem sowie durch sein soziales Umfeld. Er entspricht damit nach meiner Auffassung am ehesten dem Begriff Home Education. Home Schooling signalisiert für mich, dass das Lernen zu Hause sich am schulischen Konzept orientiert, während Unschooling sich davon deutlich absetzt, indem hier die Interessen und Bedürfnisse des Kindes leitend sind.

Was bedeutet Bildung zu Hause?

Paula Rothermel von der Universität Durham wurde zur Klärung dieser Fragen von der "British Educational Research Association" mit einer Studie beauftragt, deren Ergebnisse sie im Oktober 2002 auf einer Konferenz in Exeter vorstellte.

"Es gibt Eltern, deren Kinder zu Hause lernen und die ihre Kinder weder 'beschulen' noch 'belehren' wollen. Sie möchten vielmehr, dass ihre Kinder die Freiheit haben, ihren eigenen Neigungen zu folgen. Es spielt für sie keine Rolle, ob dabei formale Lernprozesse stattfinden und dieses beiläufige Lernen von Schulen oder Schulbeamten als 'bildungserzieherisch' anerkannt wird oder nicht. Das Recht von Kindern, sich autonom (selbstbestimmt) bilden zu können, wurde durch ein Urteil im Prozess von Harrison & Harrison gegen Stevenson am Worcester Crown Court 1981 festgeschrieben. Der Richter hatte entschieden, dass diese unstrukturierte Form der Bildung zu Hause, wie die Familie Harrison sie praktizierte, befriedigend sei. Darin definiert er 'angemessene Bildung' als einen Weg, mit dem sich Kinder auf das Leben in einer modernen, zivilisierten Gesellschaft vorbereiten können, und 'effektive Bildung' als 'ein Lernen, mit dem erreicht wird, was man sich vorgenommen hat.' "

Paula Rothermel kommentiert diese an sich erfreuliche Entscheidung in folgender Weise: "Bildung ist Pflicht, Schule dagegen nicht. Das Besondere ist, dass der Staat das Lernen zur Pflicht macht, wo doch Lernen ein menschlicher Urtrieb ist." In ihrer Untersuchung, warum das unstruktierte Lernen so erfolgreich ist, dass es sogar einen Richter beeindruckt, setzt sich Paula Rothermel mit einer Forschungsarbeit von Alan Thomas aus dem Jahr 1998 auseinander. Er untersuchte Bildung zu Hause, um seine Theorie über das informelle Lernen zu überprüfen, da dies mit Schulkindern nicht möglich war. Ihn interessierte die Frage, ob es notwendig sei, Kinder im Schulalter ausdrücklich zu unterrichten, damit sie lernen können. Dazu befragte er hunderte von Eltern in Australien und England, deren Kinder zu Hause lernen, zu ihren Vorgehensweisen. Ein für ihn entscheidendes Ergebnis war, dass die Eltern ihre ursprünglichen Konzepte zum Unterricht ihrer Kinder fast unmerklich den tatsächlichen Lernbedürfnissen der Kinder angepasst hatten. Er vermutet, dass sich der wechselseitige Prozess zwischen Säugling und Eltern, in dem der Säugling zunächst nonverbal seine Bedürfnisse mitteilt und die Eltern darauf reagieren, während dem Aufwachsen der Kinder genauso fortsetzt, so dass die Eltern nun intuitiv auf die anspruchsvolleren Lern-Bedürfnisse der Kinder eingehen und mehr und mehr ihre eigenen Konzepte zum Wissenserwerb fallenlassen.  Thomas nimmt an, dass Schulkinder ihre Fähigkeit für ein informelles Lernen bald verlieren. Die natürliche Art des Lernens von Kindern, die sich zu Hause bilden, unterscheidet sich seiner Beobachtung nach sehr von der schulischen. Die Kinder zu Hause könnten dem Strom ihrer Gedanken im Ablauf des täglichen Lebens frei folgen, und auch wenn ihr Lernen manchmal langsam schiene und nicht immer offensichtlich sei, bildeten sich doch nach und nach geistige Verbindungen, die erst später sichtbar würden.

Wenn ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen und solcher Forschungsarbeiten in Worte zu fassen versuche, was es denn ist, was diese überraschende Effizienz und Qualität bei der Praxis der Bildung zu Hause ausmacht, komme ich zu einem Aspekt, der sich nur schwierig ausdrücken lässt, aber jedem, der mit Kindern zu tun hat, vertraut ist. Am ehesten lässt er sich mit dem nicht wirklich übersetzbaren englischen Wort Commitment ausdrücken, einer Art hingebungsvoller Selbstverpflichtung. Dies entspricht einer Haltung, wie sie zum Beispiel Eltern entwickeln, wenn ihnen aus dem Umgang mit ihrem Kind heraus dessen Wohl und Gedeihen am Herzen liegt. Dass das persönliche Engagement, ein echtes Interesse am Anderen, eine aufrichtige Beziehung zwischen Menschen im Prozess des Lernens über den Erfolg entscheidet, bestätigen aktuelle Forschungen in der Neurobiologie und der Gehirnforschung. Sowohl Paula Rothermehl wie auch ähnlich forschende Kollegen erkannten dies als einen zentralen Faktor für den Erfolg der Bildung zu Hause.

Paula Rothermel stellt fest, dass weder der soziale, der wirtschaftliche, noch der Bildungsstand der Eltern ausschlaggebend für den Erfolg von Kindern im Lernen, im sozialen Verhalten und in ihrer Kreativität sind: "Gemeinsam war allen (an der Studie beteiligten) Familien ein flexibler Umgang mit der Art der Bildung und das hohe Maß an Aufmerksamkeit, das sie ihren Kindern entgegenbrachten. Die Kinder profitierten von der Freiheit, dass sie ihr Können in ihrem eigenen Tempo entwickeln konnten. Dieses, der elterliche Einsatz und ihr Commitment für ihr Kind, ungeachtet zu welcher sozioökonomischen Schicht sie gehören und welchen Bildungsgrad sie besitzen, dürfte der wichtigste Faktor für die Entwicklung der Kinder und ihre Fortschritte sein. (…) Für die Hälfte der Familien war die Entscheidung für die Bildung zu Hause eine Lebensentscheidung. Die Freiheit und die Flexibilität, die ihnen Bildung zu Hause ermöglichte, war für sie von höchstem Wert. Viele der Familien teilten uns mit, dass sie nicht geahnt hätten, dass Bildung zu Hause so erfüllend sein könnte und so viel Freude bereiten würde."

Amanda J. Petrie von der Universität Liverpool schreibt in diesem Zusammenhang in ihrer Studie zu Home Education im Auftrag der UNESCO, die sie 1995 veröffentlichte: "In meiner Untersuchung, in der wir sehr intensiv mit Familien, die Bildung zu Hause praktizieren, gearbeitet haben, waren wir immer voll dankbarer Anerkennung für das, was diese Eltern in ihrem Commitment für ihre Kinder ermöglichten."

Ein tragischer Übersetzungsfehler

Wie kommt es, dass es in einigen Ländern, allen voran Deutschland, einen unbegreiflich massiven Widerstand gegen diese Tatsachen gibt, in der Öffentlichkeit und gerade auch bei den professionellen Pädagogen? Amanda Petrie war irritiert, als sie bei ihren Recherchen in Deutschland, z.B. in der Münchener Staatsbibliothek, keine Informationen zur Bildungspflicht finden konnte: "Wie in vielen Ländern war auch hier über Bildungspflicht nur etwas zu erfahren, wenn man das Stichwort 'Schulpflicht' eingab. Das verleitet, diese beiden Wörter als Bezeichnungen derselben Sache anzusehen."

In ihrer Untersuchung stellt sie fest, "dass besonders diejenigen, die sich intensiv mit pädagogischen Fragen auseinandersetzen, die bekannten Fakten (über Bildung zu Hause) in ihren pädagogischen Handbüchern, Zeitschriften, Konferenzpapieren, Fernsehprogrammen, Gesprächsrunden und Reden häufig ignorieren." So sei es kein Wunder, dass die Öffentlichkeit in vielen Ländern keine Ahnung davon habe, wie förderlich das Lernen im häuslichen Umfeld für Kinder sei. Bei uns in Deutschland ist Bildung zu Hause verboten, da seit 1942 vom Gesetz der Schulbesuch vorgeschrieben wird. Bildung zu Hause ist hierzulande zum Tabuthema geworden, so sehr, dass kaum jemand – erst recht nicht die Studentinnen und Studenten von pädagogischen Fakultäten – von dieser Möglichkeit erfahren, die es immerhin bis 1920 (Weimarer Konstitution) ganz legal auch bei uns gab. Auch das Deutsche Institut für internationale pädagogische Forschung, das 2003 den Bildungsbericht für Deutschland im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete, stellte über Bildung zu Hause offenbar weder Forschungen an, noch bemühte es sich um relevante Informationen.

Eine Auswirkung dieser vollständigen Tabuierung von Bildung zu Hause in Deutschland ist möglicherweise auf eine Sprachverwirrung bei den Übersetzungen sowohl in der UN-Deklaration der Menschenrechte als auch der Europäischen Konvention der Menschenrechte zurückzuführen. In beiden Fällen wurde "Compulsory Education" mit "Schulpflicht" übersetzt. Für "Education" bietet mir z.B. das Online-Übersetzungsprogamm LEO jedoch eine Reihe anderer Übersetzungen an:
"education [med.]: die Aufklärung; education: die Ausbildung, die Bildung, die Bildungsarbeit, der Bildungsweg, das Bildungswesen, die Erziehung, die Schulbildung, die Schulung, der Unterricht." Für Schulpflicht finde ich dort hingegen den Begriff "Compulsory Schooling"!

Amanda Petrie untersucht in diesem Zusammenhang den geistigen Hintergrund des hier für Kinder gemeinten Rechts auf Bildung: "International sind die Rechte der Kinder auf Bildung anerkannt. Und es wurde dabei, ganz zu Recht, die Form dieser Bildung nicht festgelegt. Bildung zu Hause haben sie ganz sicher nicht ausgeschlossen. Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen erkennen ein Recht des Kindes auf Bildung in folgender Weise an: "Jeder hat das Recht auf Bildung. (…) Eine Grundbildung soll für alle verpflichtend sein. (…) Die Eltern haben das vorrangige Recht, die Art der Bildung, die ihr Kind erhalten soll, zu wählen."

Diese Auffassung beinhaltet auch die Europäische Konvention der Menschenrechte (Protokoll 1, Art. 2, 1952): "Niemandem darf das Recht auf Bildung verweigert werden. In der Ausübung aller Funktionen, die dieses Recht in Bezug auf Bildung und Lehre nach sich zieht, muss der Staat das Recht der Eltern achten und dafür sorgen, dass sie (ihren Kindern) eine Bildung und Lehre zukommen lassen können, die ihren religiösen und philosophischen Auffassungen entspricht." In den deutschen Fassungen dieser Konventionen findet sich nun aber überall "Schulpflicht" (was im Englischen eben "Compulsory Schooling" bedeutet), wo der Originaltext von "Compulsory Education" (= Bildungspflicht) spricht. Dies ist auch Amanda Petrie aufgefallen: "Einige Länder jedoch verwechselten das Recht des Kindes auf Bildung, wie es in den Menschenrechten und der Europäischen Konvention gebraucht wird, mit 'Schulpflicht'. Immerhin, selbst in den Ländern, wo nach und nach Schulpflicht eingeführt wurde, wie in den Niederlanden und in Griechenland, sind Ausnahmen möglich; Bildung zu Hause wird allerdings nur erlaubt, wenn es offensichtlich zum Vorteil des Kindes ist."

Bildung zu Hause in den USA

Wie sieht die Diskussion um Bildung zu Hause derzeit in den USA aus? Wenn das TIME-Magazin fragt: "Heimunterricht mag bessere Schüler hervorbringen, aber auch bessere Bürger?" ("Rückzug von der Schule", TIME, August 2001), antwortet darauf Brian D. Ray, vom National Home Education Research Institute, NHERI: "Zu Hause unterrichtende Eltern kennen die Antwort seit Jahren: Kein Problem! Die Skeptiker wollen jedoch Beweise. Heute ist die erste Generation von zu Hause unterrichteten Schülern erwachsen, und es gibt genug Absolventen des Heimunterrichts, um zu untersuchen, wie erfolgreich sie im privaten Leben, bei der Arbeit und im Leben insgesamt sind."

Brian Ray leitete im Jahr 2003 im Auftrag der Home School Legal Defense Association (HSLDA) die aktuellste und zugleich umfassendste Forschungsarbeit über Erwachsene, die als Kinder zu Hause unterrichtet worden sind. Er befragte 7300 Erwachsenen, über 5000 davon waren mindestens sieben Jahre lang zu Hause unterrichtet worden. Rays Studie ergab, dass Bildung zu Hause in der Regel nicht das Ende der Ausbildungslaufbahn der jungen Leute bedeutete. Offenbar aufgrund ihres hohen Interesses für ihre eigenen Themen bildeten sich über 74% der zu Hause gebildeten Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren in Kursen auf Collegeniveau weiter, verglichen mit nur 46% der US-Bevölkerung. Zum Zeitpunkt der Studie waren 49% der Befragten Vollzeitstudenten, die noch keinen Abschluss erreicht hatten, deshalb konnten keine statistischen Aussagen über die Anzahl Homeschooler mit Universitätsabschluss gemacht werden.
Die Umfrage von Brian Ray macht erneut deutlich, dass jede Geschichte eines zu Hause gebildeten Menschen die Einzigartigkeit einer besonderen Familie widerspiegelt. Es überrascht nicht, dass man diese Menschen in fast allen beruflichen Bereichen wiederfindet. Ray stellte außerdem fest, dass zu Hause gebildetete Menschen engagiert sind und sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen. 71% sind ehrenamtlich tätig (z.B. als Trainer einer Sportmannschaft, in Form freiwilliger Arbeit an Schulen, in Kirchen oder Nachbarschaftsgruppen) gegenüber 37% der Erwachsenen der gleichen Altersgruppen in den USA. 88% der befragten Absolventen waren Mitglieder einer Organisation (z.B. auf Gemeinde-, Kirchen- oder Synagogenebene, in Gewerkschaften, Heimunterrichts- oder Berufsverbänden) gegenüber 50% der US-Erwachsenen.

Nur 4,2% der Absolventen des Heimunterrichts halten Politik und Regierungsangelegenheiten für zu kompliziert, um sie zu verstehen, gegenüber 35% der US-Erwachsenen. Ray sieht darin den Grund, warum die zu Hause Gebildeteten häufig für Kandidaten und Wahlkampagnen arbeiten und sich in viel höherem Maß an Wahlen beteiligen als die Gesamtbevölkerung der USA. Beispielsweise haben 76% der zu Hause Gebildeten zwischen 18 und 24 in den letzten fünf Jahren gewählt gegenüber nur 29% der gesamten US-Bevölkerung. Offenbar hat Bildung zu Hause auch einen positiven Einfluss auf das Lebensgefühl. Ray schreibt: "Wenn man alle Aspekte berücksichtigt, gaben 59% (27,6%) der untersuchten Personen an, dass sie in ihrem Leben 'sehr glücklich' und 39% (63%), dass sie 'ziemlich glücklich' seien. Das Leben finden 73% (47,3%) von ihnen aufregend. Die zu Hause Gebildeten sind im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung der USA insgesamt schlicht zufriedener, ihre finanzielle und ihre berufliche Situation eingeschlossen." (Die Angaben in Klammern beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung der USA.)

Es wird Eltern ermutigen, die sich manchmal fragen, ob sie ihren Kindern mit der Bildung zu Hause etwas Gutes tun, wenn sie wissen, dass 95% der in den USA befragten Personen froh darüber sind, dass sie zu Hause lernen konnten. 82% sagten aus, dass sie ihre eigenen Kinder ebenfalls zu Hause unterrichten würden, und 74% praktizieren es tatsächlich.

Die positiven Erfahrungen und die Ergebnisse etlicher Studien zu Home-educated-Kindern, zu ihrem Lernen und zu ihrer Entwicklung hatte schon 1999 den Senat der Vereinigten Staaten zu einer eindrucksvoll anerkennenden Geste veranlasst, eine Belobigung, die im Folgejahr 2000 wiederholt und verstärkt wurde. In wieviel Jahren werden wohl in Deutschland solche Töne zu hören sein?


Literatur:

Amanda J. Petrie: Issues affecting home education in Europe. Paper presented 3 July 2000, Education for Social Democracies Conference, Institute of Education, London, UK.
Amanda J. Petrie: Home Educators and the Law within Europe, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, 1995.
Paula Rothermel: Home-Education: Aims, Practices and Outcomes, Paper presented at the Annual Conference of the British Educational Research Association, September 2002.
Brian D. Ray: Worldwide Guide to Homeschooling 2002–2003: Facts and Stats on the Benefits of Home School, Broadman & Holman Publishers.
Alan Thomas: Educating Children at Home, Cassell Academic, 1998.


Erschienen in: KursKontakte, Nr. 131, Februar/März 2004