Lasst uns begeisterte Lerner sein!
Anke Caspar-Jürgens präsentiert Argumente einer
kanadischen Homeschoolerin und kommentiert Pläne zur
Bildungsreform.
Wer nicht erlebt hat, wie das Lernen von Kindern, auch
der Erwerb von anspruchsvollem Wissen, zu Hause stattfindet, hat meist
viele Fragen, wie und ob das möglich ist. Das ist auch in
Ländern so,
in denen Home-Education legal ist, denn die Institution Schule gilt
überall als die Norm. Diana Sandberg aus British Columbia, deren
Kinder
zu Haus gelernt haben (jetzt, als Teenager, möchten sie in eine
Schule
ihrer Wahl gehen), hat in einem fiktiven Interview alle Fragen
zusammengefasst, die ihr in der Regel zu diesem Thema gestellt werden.
Der Beitrag erschien erstmals im kanadischen „Homeschooling Magazine“
im Jahr 1997. In der Folge verwende ich anstelle von Home-Education die
deutsche Übersetzung „Bildung zu Hause“.
Frage:
Ist Bildung zu Hause legal?
Anwort: In British Columbia ja. Kinder, die zu Hause unterrichtet
werden, werden registriert. Das ist ein einfacher Vorgang.
Bist du eine Lehrerin, wo du doch deine Kinder zuhause unterrichtest?
Eigentlich ja, aber ich habe keinen Abschluss als Lehrerin. Ein
ziemlich hoher Prozentsatz der Eltern, die Bildung zu Hause
praktizieren, sind Lehrer oder frühere Lehrer. Viele berichten,
dass
ihre Ausbildung eher ein Hindernis ist, da Bildung zu Hause so anders
ist. Wenn du dich nicht mit 25 bis 30 Schülern gleichzeitig
beschäftigen musst, entfällt der enorme Balanceakt, den
Langsamen zu
helfen, die Schnellen zu stimulieren und gleichzeitig noch die
Widerspenstigen zu überzeugen und die feindlich Gesinnten zu
zähmen.
Interessanterweise zeigen akademische Studien keinen signifikanten
Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Bildung-zu HauseEltern und
der Anzahl der von ihren Kindern erreichten Punkte.
An dieser Stelle möchte ich einige Worte für die Lehrer
einlegen.
In der Regel haben Bildung-zu-Hause-Eltern keinen Streit mit den
Lehrern. Meine eigenen Eltern sind beide Lehrer – Lehrer leisten eine
Menge, opfern ihre freie Zeit. Die meisten Lehrer sind engagierte Leute
mit einem schwierigen Job. Ich kenne keinen Bildung-zu-Hause-Menschen,
der mir da widersprechen würde. Unsere Bedenken beziehen sich auf
das
Schulsystem, nicht auf die Leute, die ihr Bestes innerhalb des Systems
geben.
Befürchtest du nicht, dass die Kinder zurückbleiben? Woher
weißt du, wie gut sie ihre Sache machen?
Diese Frage macht mich immer traurig. Sie sagt eine Menge über die
Distanz von Familienmitgliedern aus. Mein Arzt weiß viel mehr als
ich
über Krankheiten, und trotzdem bringe ich meine Kinder nicht jeden
Tag
zu ihm, um zu wissen, ob es ihnen gut geht oder nicht. Ich bin mit
meinen Kindern jeden Tag zusammen. Ich sehe, wie es ihnen geht. Ich
weiß, wann sie mit einer Idee oder Technik ringen, und bin
bereit,
ihnen zu helfen, wenn sie es wünschen. Sitzenbleiben ist die Folge
davon, dass das Lernen nach einer festen Reihenfolge erfolgt. Schulen
folgen dem bestimmten Lehrplan – aus dem gleichen Grund, aus dem
Anzüge
nach einem bestimmten Plan in einer Fabrik hergestellt werden – es ist
der einzige funktionierende Weg, um einen hohen Ausstoß von
gleichen
Produkten zu erreichen. Ein Anzug von der Stange mag den meisten Leuten
ziemlich gut passen, aber wenn dein Körper in irgendeiner Weise
nicht
Standard ist, dann ist es hoffnungslos. Ein maßgeschneiderter
Anzug
würde dir immer am besten passen. So ist es auch mit dem Lernen.
Kinder
lernen gern. Wird ihnen Freiheit, Ermutigung und Zugang zu
Informationen gegeben, lernen sie so viel, wie in ihren Kopf
hineingeht, und so schnell, wie sie das Bedürfnis verspüren,
etwas
wissen zu wollen. Aber sie werden es nicht in der Reihenfolge tun, wie
du es erwartest.
Um die Frage auf andere Art und Weise zu beantworten: Kinder, die
zu Hause unterrichtet werden, erreichen eine gute Punktzahl in
Standardtests. Eine Studie im Staat Washington analysierte 2911 Tests
(Stanford Achievement Series), geschrieben von zu Hause gebildeten
Kindern. Die durchschnittliche Punktzahl lag bei 65% bis 68%, bedeutend
höher als der landesweite Durchschnitt (50%).
Das Lernen der Kinder zu betreuen ist doch sicherlich sehr
zeitaufwendig?
Ja und nein. Es erfordert einen Elternteil, der zu Hause ist. Das
bedeutet aber nicht, dass dieser den ganzen Tag lehrend im formalen
Sinne verbringt. Es gibt viele verschiedene Arten von Bildung zu Hause
– einige Familien haben tägliche Unterrichtsstunden zu einer
bestimmten
Zeit, andere strukturieren ihren Unterricht weniger. Eine Frau, die ich
kenne, unterrichtete zu Hause fünf Kinder (drei davon waren von
ihrer
Schule als lernbehindert eingestuft gewesen) nach folgendem Plan:
nachdem die Familie gemeinsam die morgendlichen Hausarbeiten erledigt
hatte, setzten sie sich von 10 Uhr bis 12 Uhr zusammen. Nach dem
Mittagessen hatte jeder den Nachmittag frei für seine eigenen
Zwecke.
Das taten sie viermal die Woche von Oktober bis März. Alle Kinder
sind
jetzt erwachsen, und es geht ihnen gut. Unsere eigene Familie tendiert
mehr zur unstrukturierten Seite des Spektrums. Wir lesen viel, zusammen
und jeder für sich. Manchmal möchte sich ein Kind mit den
Arbeitsbüchern beschäftigen, eine Reihe davon steht an der
Ecke meines
Schreibtischs, und die Kinder erfreuen sich daran, von Zeit zu Zeit
damit zu arbeiten. Oft diskutieren wir interessante Zahlensachverhalte,
historische oder gegenwärtige Ereignisse während der
Mahlzeiten oder im
Auto. Wir gehen in die Bücherei, ins "Science World"
(Ausstellungszentrum für Kinder und Erwachsene) oder ins
Schwimmbad. Wenn wir zu Hause sind, bin ich ganz von meinen eigenen
Projekten in Anspruch genommen und die Kinder beschäftigen sich
mit
ihren eigenen Sachen. Es ist extrem selten, dass sie mich fragen, was
sie machen können.
Eine akademische Studie, die einen Zusammenhang zwischen dem Grad
der Strukturierung und den erreichten Punkten bei zu Hause gebildeten
Kindern herstellen wollte, konnte keinen finden. Die Kinder waren
ziemlich gut, egal ob die Familie sich als sehr strukturiert, total
unstrukturiert oder dazwischen einstufte. Dies ist eine meiner
Lieblingsstatistiken; sie zeigt, dass es viele richtige Wege gibt, die
Kinder zu Hause zu unterrichten, und dass den Familien vertraut werden
kann, den Weg zu finden, der für sie am besten ist.
Wie kannst du alles wissen, was sie lernen wollen?
Du kannst es nicht, und du brauchst es nicht. Gesunde, neugierige
Kinder haben Interesse an allen möglichen Dingen, über die du
kaum
nachgedacht hast und worüber du dich nie informiert hast. Das ist
die
Möglichkeit zusammen zu lernen, und für das Kind die
Gelegenheit, das
Wichtigste zu lernen, was du es zu lehren hast: wie man herausfindet,
was man wissen möchte und wie man dem Wissen nachjagen kann. Das
ist
viel lebendiger als irgendein bestimmtes Fach, und jedes Thema kann
genutzt werden, um dies zu entdecken. Hat das Kind etwas Erfahrung,
wirst du merken, dass es schneller ist als du. Denk mal zurück –
viele
Leute erzählten mir von der schönsten Zeit ihrer Kindheit, –
das war
dann immer die, in der sie völlig in ein Thema eintauchten –
Dinosaurier, Autos, Radios, das Mittelalter oder was auch immer – und
mehr darüber wussten als irgendein Erwachsener um sie herum. Meine
Kinder verwandelten sich in Piraten, Dinosaurier, Wikinger… vor kurzem
bauten wir ein Wikingerdorf aus einem Bastelbuch, ziemlich detailliert
und sehr interessant. Danach lasen wir viel darüber. Sonjas
Interesse
an der Oper hat mich dazu gebracht, eine Saison-Eintrittskarte zu
kaufen
– etwas, was jemand, der mich kennt, nie für möglich gehalten
hätte.
Im Herbst, als sie neun Jahre alt war, entschied sie sich, das
Einmaleins zu lernen, und in einem Monat konnte sie es. Ihr
Weihnachtsgeschenk für ihren Großvater bestand darin,
Multiplikationsaufgaben für ihn im Kopf zu lösen. Allgemein
lässt sich
sagen, dass die Rolle der Eltern bei der Bildung zu Hause nicht darin
besteht, die Quelle allen Wissens zu sein und eine Menge an Wissen in
leere, passive Köpfe zu stopfen. Unsere Rolle besteht darin,
begeisterte und erfahrene Lerner zu sein, Vorbilder für unsere
Kinder,
die Unterstützung und Ratschläge geben können und den
Transport zur
Bibliothek übernehmen.
Haben die Kinder keine Probleme, an der Uni genommen zu werden oder
einen Arbeitsplatz zu bekommen?
Das war kein Problem für die mir bekannten Menschen, die sich zu
Hause gebildet hatten. Eine vor kurzem durchgeführte Untersuchung
über
Erwachsene, die zu Hause unterrichtet wurden, zeigte, dass 31% davon
Arbeitgeber geworden waren. Viele andere hatten Arbeit für sich
selbst
kreiert, indem sie sich von Leuten einstellen ließen, jedoch in
dem
Bereich ihres eigenen Interesses. Zu Hause gebildete Menschen sind
ziemlich gut darin, ihren eigenen Weg zu finden. Wie einige von uns aus
eigener Erfahrung wissen, kann der Wechsel von der High School, wo
einem alles gesagt wurde, was zu tun sei, zur Universität ein ganz
schöner Schock sein. Für zu Hause gebildete Menschen jedoch
sind deren
Methoden ähnlich. Einige Universitäten mit Prestige, wie z.B.
die
Universität Berkeley, werben aktiv solche Menschen, da sie bisher
alle
hervorragende Studenten waren. Hier in der Nähe gingen zwei junge
Männer, die acht Jahre lang zu Hause unterrichtet wurden, erstmal
für
ein Jahr auf das Community College. Danach wechselten sie ohne Probleme
auf die Universität über. Es ist genau wie mit der Frage nach
der
Arbeitssuche: Zu Hause gebildete Menschen finden ihren Weg, auch wenn
es nicht immer der „normale“ Weg ist, um dahin zu gelangen, wo sie
hinwollen.
Du hältst deine Kinder von notwendigem sozialen Kontakt
entfernt. Sie werden überbehütet und von der realen Welt
isoliert.
Dieses Argument mag ich besonders. Der einzige Teil der realen
Welt, welcher meiner Kenntnis nach der Schule ähnelt, ist das
Gefängnis
oder das Militär. Wo sonst wirst du in willkürliche Gruppen
eingeteilt,
ständig geprüft bzw kontrolliert, der freien Rede beraubt und
bist
Objekt kleiner Tyranneien? (Jeder, der jetzt antwortet: „Auf Arbeit“,
braucht einen neuen Job!) Meine Kinder leben in der realen Welt. Sie
treffen viele Leute, sind sehr offen und sprechen mit jedem. Sie haben
auch viele Freunde in ihrem eigenen Alter. Unsere Homeschooling Support
Group unternimmt regelmäßige Ausflüge; da sind Eltern
und Kinder aller
Altersgruppen gemischt. Meine ältere Tochter singt im
Vancouver-Bach-Kinderchor und nimmt Zeichenstunden, die jüngere
spielt
Klavier. Beide sind Mitglieder in einer Kinderzirkusgruppe. Sie haben
Zeit für all diese Kontakte mit Leuten, die ihr Interesse teilen,
da
sie nicht in der Schule sind. Einige Leute sind sich sicher, dass der
Prozess der Sozialisation nur in der Schule mittels einer kritischen
Masse an Kindern und der Aufsicht durch einen trainierten
Professionellen stattfinden kann. Das ist Quatsch. Durch Sozialisierung
lernen die Menschen, wie sie sich als Erwachsene zu verhalten haben.
Die Kinder während ihrer Kindheit von der Erwachsenenwelt zu
isolieren,
ist nicht gerade der beste Weg. Die natürliche Sozialisation der
Kinder
hat zwei Komponenten: das Verhalten der Erwachsenen zu beobachten und
dann das auszuprobieren, was sie beobachtet haben. Die heutigen Kinder
haben viele Möglichkeiten, ihre sozialen Fähigkeiten im
Zusammensein
mit anderen Kindern auszuprobieren, aber extrem begrenzte
Möglichkeiten, die normale Interaktion von Erwachsenen zu
beobachten.
An den meisten Orten, an denen Erwachsene ihre Zeit verbringen, sind
Kinder nicht gern gesehen. Woher sollen sie also Vorbilder haben?
Manche denken, dass es notwendiges Überlebenstraining für die
Kinder ist, wenn sie auf dem Schulhof brutal behandelt werden. Dem
widerspreche ich ganz entschieden! Niemand lässt ein Kleinkind auf
die
Straße gehen, damit es seine Erfahrung mit Autos machen kann.
Viele
Studien zeigen, dass Kinder, die sich in einer sicheren Umgebung
charakterlich festigen konnten, in sich ruhende und ausgeglichene
Erwachsene werden, während solche, die brutal behandelt wurden,
später
entweder Opfer oder selbst Rohlinge werden.
Was willst du eigentlich? Wir sind alle zur Schule gegangen – und
wir sind in Ordnung!
Denkst du wirklich so? Ich denke, dass wir als Gesellschaft
bestimmt nicht in Ordnung sind und dass das viel mit der Schule zu tun
hat. Wir sind ein zerstückelter, narzisstischer Haufen mit einer
starken Tendenz, sich der Autorität eines Experten zu unterwerfen.
Wir
bringen wenig Leidenschaft für andere auf, besonders für
andere
Generationen. Alte Leute werden weitgehend missachtet, Kinder
geringgeschätzt. In jeder Schulgeneration wird den Kindern mehr
und
mehr vom Leben genommen. Kinder verbringen heute mehr Zeit in der und
für die Schule als noch zu deiner Zeit; du hattest mehr Zeit in
der
Familie. Gerade mal vor 100 Jahren war das Schuljahr nur einige Wochen
lang. Jetzt erhöht sich die Schulzeit, und die Familien schrumpfen
zusammen, so dass Kinder immer weniger Zugang zu anderen Erwachsenen
haben, während der Fernseher die zur Verfügung stehende freie
Zeit
auffrisst. Wenn Kinder vom Leben der Erwachsenen isoliert werden,
dürften sie zunehmend vom Gleichaltrigendruck in Anspruch genommen
werden. Es ist nicht überraschend, dass Kinder heute nur schwer
ihren
Platz in der Gesellschaft finden, da sie kaum Erfahrungen mit dem
„wirklichen Leben“ haben. Traurigerweise ist vorhersehbar, dass sie
ältere Leute ausschließen und ignorieren werden, von denen
sie ja
selber ausgeschlossen und ignoriert wurden. So schließen sie auch
Menschen mit Behinderung aus. Ist das eine gesunde Gesellschaft? Ich
denke nicht.“
(Fragen und Antworten von Diana Sandberg. Übersetzung aus dem
Englischen von Verena Sachse.)
Spielball der Kräfte
Soweit der Text von Diana Sandberg. Ich schließe mich der Autorin
an – ganz sicherlich leben wir nicht in einer gesunden Gesellschaft.
Aber diese Gesellschaft hat genügend kreatives Potenzial, um neue
Wege
zu gehen – wir müssen nur den Mut haben, sie auszuprobieren.
„Deutschland muss schneller lernen“ – ein so überschriebener
Artikel aus dem Süden Deutschlands gelangte Anfang Mai in die
Ostsee-Zeitung in den nordöstlichsten Teil von Vorpommern. Doris
Kesselring von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft e.V.
berichtet darin über einen Vortrag von Dieter Lenzen,
Präsident der
Freien Universität Berlin. Ich vertiefte mich in den Text, um
herauszufinden, welche Weltsicht wohl dahinter stehen mag.
Währenddessen höre ich im Hintergrund tonnenschwere
multifunktionale
Landmaschinen über zig Hektar große, in Monokultur
bestellte, golden
wogende Getreidefelder rasen. Nach zwei Tagen ist alles bereinigt,
gemäht, gedroschen und in gigantischen Silos für die
Verschiffung nach
Übersee gelagert. Effektiv und preisgünstig – für die
Besitzer. Dass
die Böden bei dieser Behandlung unfruchtbar werden, machen
Dünger und
Herbizide wett. Anstelle der früher rund 300 Menschen sind heute
nur
noch zwei Dutzend Menschen für die Bewirtschaftung der 5000 Hektar
des
LPG-Nachfolgebetriebs erforderlich. In unserer Region liegt die reale
Arbeitslosigkeit stellenweise bei 80%. Die Menschen, die vor der Wende
auf diesen Flächen ihre Arbeit hatten, haben aus ihren
Gemüsegärten
Zierrasen gemacht und größtenteils ihr Kleinvieh
abgeschafft. Sie
tragen ihr spärliches Geld für Gemüse usw. in den
Supermarkt zu Nestlé
und anderen Gewinnern der Globalisierung. Der Zusammenhalt der
Menschen, ihre gegenseitige Anteilnahme und Unterstützung werden
dünner
– den Platz nehmen Fernseher und das Videogerät ein.
Ich wende mich wieder Dieter Lenzen zu und überlege mit gemischen
Gefühlen, wie sich seine Vorschläge wohl auswirken werden.
„Mit vier zur Schule, Abitur mit 17 und mit 21 Studium beenden. So
könnte 2020 der Weg eines jungen Menschen aussehen, wird das
‚Zukunftskonzept Bildung neu denken‘ umgesetzt.“ (So heißt die
Bildungsstudie, an der er im Auftrag der bayerischen Wirtschaft
mitgewirkt hat.) „… Ein Drittel der deutschen Erwerbsbevölkerung
wird
2020 über 50 Jahre sein … Der demografische Wandel stellt auch das
Bildungswesen vor Herausforderungen. Bildung wird
(über)lebenswichtig
für den Wirtschaftsstandort. Es gilt: schneller, besser, mehr und
lebenslang lernen. Das System muss radikal umgestaltet werden.
… Spätestens mit 21 soll der Mensch dem Arbeitsmarkt ausgebildet
zur
Verfügung stehen. Dazu muss er frühzeitig die Schulbank
drücken, ab
vier Jahre fordern die Autoren und rufen Lehrer und Eltern auf den
Plan. Die halten das Horror-Szenario der ‚geraubten Kindheit‘ dagegen.
Das Zukunftskonzept plädiert für ein Ende der Schulpflicht
mit 14
Jahren. Zunächst sollten Mädchen und Jungen bis zum 10.
Lebensjahr
gemeinsam die Primarschule besuchen. Dann kämen Sekundarschule und
Gymnasium. ‚So hätten sie mit 17 Jahren das Abitur und
könnten
studieren‘. Der Anteil der Bildung am Bruttoinlandsprodukt müsse
von
4,5 Prozent auf 5,5 bis 6 Prozent gesteigert werden, um die
Bildungsreform finanzieren zu können. Auch Bürger
müssten in die
Verantwortung gezogen werden, z.B. über Studiengebühren. …
Deutschland
müsse wie international üblich Ganztagsunterricht zum
Normalfall
machen. ‚2020 werden beide Eltern berufstätig sein‘, glaubt
Lenzen.
Derzeitige Lehr- und Lernmethoden hält er für
‚modernisierungsbedürftig‘, weil sie aus den 60er- und 70er-Jahren
stammen. Das Konzept bricht mit Tabus, fordert weniger Ferien,
Qualitätsüberprüfung der Lehrer.“
Die Motivation der Wirtschaft, den säumigen Verantwortlichen in
der Pädagogik helfend unter die Arme zu greifen, wird noch einmal
sichtbar in einem weiteren Beitrag von Renate Dreher, ebenfalls von der
Vereinigung der bayerischen Wirtschaft e.V. Sie zitiert den
Vorsitzenden Rodenstock: „… Die Verbände investierten über 60
Millionen
Euro in derzeit rund 30 Bildungsprojekte. … Die Unternehmen in Bayern
engagieren sich im Bildungsbereich, weil sie Verantwortung für
ihre
künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahrnehmen, und weil
Bildung
eine entscheidende Stellschraube für wirtschaftlichen Erfolg und
Wohlstand ist.“
Ein anderer Staat
Zu Beginn der Bildungskonferenz der Heinrich Böll Stiftung Anfang
Juni in Berlin informierte uns Warnfried Dettling, freier Autor in
Berlin, über die Struktur institutionalisierter Bildung.
Eindrucksvoll
schlüsselte er die gemeinsamen Merkmale von Institutionen auf.
Ihre
Strukturen formen die Gehirne von uns Menschen während der langen
Zeit,
die wir dort verbringen, in Kindergärten, Schulen,
Universitäten,
Betrieben, Altersheimen und Krankenhäusern.
Institutionen ziehen eine sichtbare oder unsichtbare Mauer zwischen
sich und der sozialen Umwelt. Es halten sich dort zwei sorgfältig
voneinander unterschiedene
Gruppen auf: Die einen machen etwas mit oder an den anderen, die
anderen werden (mit oder gegen ihren Willen) unterrichtet, betreut oder
verwahrt, Menschen im Aktiv neben Menschen im Passiv.
Institutionen sind auf einen Zweck spezialisiert: Gesundmachen,
Wissen vermitteln usw. (Lehrer: „Ich habe studiert, um Wissen zu
vermitteln, wir sind doch keine Erziehungsanstalt!“)
„Gerade weil Institutionen die latenten Funktionen sozialer
Strukturen systematisch ausblenden, arbeiten sie soziologisch
betrachtet suboptimal“, sagt Dettling. „Sie sind nicht gestaltet als
Lebensräume mit und für leibhaftige, komplexe Menschen, die
in all
ihrer Vielfalt, mit ihren Interessen und Leidenschaften miteinander
leben, lernen und arbeiten, sondern als staatliche Ein-Zweck-Anstalten,
mit dazu passenden Rollen- und Funktionsträgern.“
Im Wesentlichen komme es laut Winfried Dettling darauf an, im
Sinn einer demokratischen bürgerschaftlichen Gesellschaft aus
einer
staatlichen Anstalt eine gemeinsame Angelegenheit der Betroffenen und
Beteiligten zu machen. Ihre Aktivierung geschehe über die
Verantwortung
der einzelnen Person für sich und ihr Leben. Dabei gehe es nicht
um
mehr oder weniger Staat, sondern um einen anderen, intelligenten Staat,
der in der Lage ist, die Nachfrage nach Bildungsgütern gezielt mit
„sozialer“ Kaufkraft zu versehen (beispielsweise mit
Bildungsgutscheinen) – ein Credo, das von allen Beteiligten der
Konferenz nachdrücklich unterstrichen wurde, sogar von den
anwesenden
Kultusministerinnen und Kultusministern. Konsequenz dieses
Bekenntnisses zum Bürgerstaat wäre, dass die politischen
Inhaber ihre
Macht über die Bildung der Kinder tatsächlich
zurücknähmen und endlich
auch deutschen Eltern und ihren Kindern als den vorrangig Betroffenen
und Beteiligten das Menschenrecht auf Selbstbestimmung ihrer Bildung
zugestünden. Aufgabe des Staates bliebe wie bisher seine
grundgesetzlich gebotene Pflicht der Begleitung, Unterstützung und
der
rechtlichen Aufsicht über die Bildung der Kinder, das heißt,
er hätte
zu gewährleisten, dass jedes Kind die für einen
handlungsfähigen Bürger
erforderliche Bildung erhalten kann, und dass das Grundgesetz
eingehalten wird.
Die UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948 sagt unter Ziffer 3:
„Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu
wählen,
die ihren Kindern zuteil werden soll.“ Und im Zusatzprotokoll der
Europäischen Menschenrechtskonvention von 1952, Art. 2, 1., lesen
wir:
„Der Staat hat … das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und die
Bildung entsprechend ihren religiösen und weltanschaulichen
Überzeugungen sicherzustellen.“
Bis jetzt werden die Weichen für die Zukunft der Bildung nicht von
den Betroffenen gestellt, den Eltern und ihren Kindern.
Wie wünschen wir uns, zu leben, welches sind unsere Werte und
Ziele? Sind wir bereit, uns für unsere Kinder und die Zukunft zu
engagieren? Das scheint doch fruchtbarer, als uns aus Ratlosigkeit oder
Resignation den Entscheidungen der gegenwärtig miteinander
ringenden
Kräfte aus der Wirtschaft, aus der Politik mit ihren wechselnden
Prioritäten, oder den Wissenschaftlern, die mit ihren
Forschungsprojekten wiederum auf Wirtschaft und Politik angewiesen
sind, zu überlassen.
Erschienen in: KursKontakte,
Nr. 134, August/September 2004
Originalfassung
des Artikels von Diana Sandberg.
Bundesverband
Natürlich Lernen e.V.: Artikel
in KursKontakte