Zu Hause lernen
  von Daphne Gray-Grant

Als Rachel Klippenstein 10 Jahre als war, entdeckte sie ein englisches Buch zu Hause im Regal. Gefesselt von ihrer Entdeckung eines Textes in Altenglisch, Mittelenglisch und zeitgenössischem Englisch, verbrachte sie Stunden damit, die Absätze zu dekonstruieren und sie sorgfältig zu untersuchen und zu vergleichen. Heute ist sie Studentin der Sprachwissenschaften im 4. Jahr und hat die Empfehlung bekommen sich für ein Rhodes-Stipendium zu bewerben; ihr akademischer Werdegang sorgt nicht für Verwunderung, sondern erscheint vielmehr vorprogrammiert, bis auf eine Tatsache: bis sie auf die University of British Columbia ging, hat Andrea Klippenstein nie eine Schule besucht. Stattdessen hat sie größtenteils unstrukturiert zu Hause gelernt, wo sie die Freiheit hatte, ihren eigenen Interessen nachzugehen.

Wie viele berühmte unbeschulte Menschen (einschließlich Albert Einstein, Irving Berlin, Thomas Edison und Agatha Christie) hat sie sich durch ihre herausragende Leistung hervorgetan. Aber ebenso wurde sie manchmal als Teil einer Außenseiterbewegung angesehen, die hauptsächlich mit konservativen Christen in Verbindung gebracht wurde. Diese Einschätzung ist im Wandel begriffen. Obwohl das Leben ohne Schule noch immer nicht an der Tagesordnung ist, erfreut es sich inzwischen größerer Akzeptanz. Die Zahl der unbeschulten Kinder in Nordamerika steigt seit den 90er Jahren und die heutigen Schätzungen liegen bei 1% in Kanada (mehr als 100.000 Kinder pro Jahr) und rund 2% in den USA. Rachels Vater, John Klippenstein, Bachelor of Science ’79, lacht, wenn er an den ersten Ausflug seiner Tochter ins Altenglische denkt. „Kinder stürzen sich in Projekte, die für uns langweilig wären.“, sagt er. Dennoch war er wild entschlossen, ihr die Freiheit in Sachen Bildung zu lassen.

“Es gefiel uns nicht, wie die Schule Menschen gleich machte.”, sagt er über die Entscheidung seiner Familie im Bereich der Bildung gegen den Strom zu schwimmen. Er erinnert sich, wie die Bücher der Pädagogen Frank Smith und John Holt ihn inspirierten. „Sie argumentieren, dass man im Kontext der Dinge lernt, für die man sich interessiert. Wie heißt es? 'Drill and kill.' Viele der Schulübungen zerstören nur das Interesse am Lernen.“ John, heute Ingenieur bei der Firma Creo Industries mit Hauptsitz in Belgien, hat vier Jahre lang am Fachbereich Mathematik der University of British Columbia gelehrt und glaubt, dass unbeschulte Kinder auch die besten Studenten sind. „Sie sind engagierte Studenten.“, sagt er. „Der Fachbereich wird seine Freude daran haben, sie in den Kursen sitzen zu haben. Sie sind motiviert und haben gelernt eigenständig zu lernen.“

Der 20jährige Karsten Hammond, Bachelor of Science ’03, der mit Auszeichnung seinen Schluss in Biochemie gemacht hat, nachdem er von der 1. bis zur 11. Klasse zu Hause in Nelson, British Columbia, gelernt hatte, teilt seine Meinung. „Das Leben ohne Schule hat mich gelehrt eigenständig zu lernen.“, sagt er. Meine Mutter diente mir als Wegweiser, aber ich musste es alleine tun. Das war eine unglaublich gute Vorbereitung für mich. Ich habe das Gefühl, dass ich den anderen etwas voraus habe.“ Nach seinem Abschluss an der University of British Columbia konnte er zwischen verschiedenen akademischen Angeboten aus dem ganzen Land wählen und hat sich jetzt glücklich in der medizinischen Fakultät der University of Alberta eingelegt.

Und dennoch: wenn Sie vom Leben ohne Schule sprechen, gehen bei manchen Leuten die Alarmglocken an. Viele richten den Blick sofort auf das Thema Sozialisation: „Haben unbeschulte Kinder ausreichend Kontakt mit ihren Altersgenossen?“, fragen sie besorgt. Für Charles Ungerleider, Professor für Erziehungswissenschaften an der University of British Columbia, hat konkretere Bedenken. „Egal wie besorgt und liebevoll und fähig ich als Lehrer und Vater oder Mutter sein mag, tue ich meinen Kindern keinen Gefallen, wenn ich sie selbst unterrichte.“, sagt er. „Ein wichtiger Effekt des Schulbesuchs ist das Herausführen eines Menschen aus den engen Grenzen seines bisherigen Erfahrungshorizonts. Wenn sie nicht lernen Kontakt zu Menschen aufzubauen, die andere Werte als sie selbst haben, habe ich ihnen einen schlechten Dienst erwiesen.“ Als leidenschaftlicher Verfechter des öffentlichen Schulsystems ist Ungerleider überzeugt, dass Bildung kein privates Unterfangen sein sollte, sondern eine Möglichkeit Kinder aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zusammen zu bringen, damit sie miteinander umgehen und voneinander lernen können.

Gary Knowles, Professor am Institut für Erziehungswissenschaften in Ontario, widerspricht dem nicht. Er vertritt allerdings den Standpunkt, dass unbeschulte Kinder durchaus dieser Art von Vielfalt ausgesetzt sind. Als jemand, der seit über 20 Jahren das Leben ohne Schule untersucht, sagt er, dass Kinder, die zu Hause lernen, oft besser sozialisiert sind als ihre Altersgenossen in der Schule. Immerhin verbringen Schulkinder den ganzen Tag in Klassenräumen voller exakt gleichaltriger Kinder, die der gleichen sozioökonomischen Gruppe angehören. Ihr Kontakt mit Erwachsenen beschränkt sich auf einige wenige Lehrer und ihr Kontakt mit alten Menschen und Kindern anderer Altersgruppen tendiert oft gegen Null. „Unbeschulte Kinder knüpfen alle möglichen Kontakt zu Menschen ihrer Gemeinde, basierend auf vertikalen Gruppierungen, nicht auf horizontalen.“, so Knowles. Er fügt hinzu: „Die Schule ist kein Garant für gesundes Sozialverhalten. Oft erlebt man Cliquenbildung in Schulen. Wenn Kinder dagegen in Kleingruppen miteinander arbeiten, ist die Chance gegenseitiger Akzeptanz größer."

Seine Ansichten hallen in den Worten von Jan Maynard-Nicol wider, einer ehemaligen Lehrerin, die 2001 promovierte und heute als Lehrplanberaterin tätig ist. Maynard-Nicol schrieb ihre Doktorarbeit über das Leben ohne Schule, nachdem sie eine Radiosendung über das Thema gehört hatte. „Ich saß im Auto auf dem Weg zu einem Seminar und hörte diese Dokumentation.“, erinnert sie sich. „Zunächst dachte ich, dass sich das alles ziemlich abgedreht anhörte, aber dann hat es doch mein Interesse geweckt.“ Nachdem sie mit anderen Lehrern und Eltern gesprochen hatte, beschloss sie mehr in Erfahrung zu bringen. „Als Lehrerin in der Schule wurde mir langsam klar, wie viel Zeit ich mit Disziplinarmaßnahmen und dem Einsammeln von Milchgeld verwendete.“

Maynard-Nicol hat dann sechs Monate lang eine Gruppe unbeschulter Kinder aus Vancouver begleitet und sich über ihr Leben informiert. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nur sehr wenige Eltern ihre Kinder in Abgeschiedenheit von der Außenwelt unterrichten.“, sagt sie. „Die meisten sind in verschiedenen Vereinen aktiv, gehen zum Gymnastikunterricht und gehören Jugendgruppen an. Viele haben sich zu Gruppen zusammengeschlossen und unternehmen regelmäßig etwas miteinander. Sie engagieren Menschen, die den Kindern Dinge wie afrikanisches Trommeln oder Französisch beibringen. Sie sitzen keineswegs die ganze Zeit nur am Küchentisch.“

Neben der Sozialisation, sagt Maynard-Nicol, macht sich die Öffentlichkeit häufig Sorgen darüber, ob unbeschulte Kinder ohne die Disziplin von Lehrbüchern, Prüfungen und ausgebildeten Lehrern eine anständige Bildung erlangen können. Die Forschungsergebnisse, so sagt sie, haben gezeigt, dass der Bildungsgrad der Eltern irrelevant ist für den Erfolg des Lebens ohne Schule. „Einige Rechtssprechungen vertreten die Ansicht, dass die Eltern ausgebildete Lehrer sein sollten. Doch das Hauptkriterium, dass die Eltern selbst wirklich neugierige Menschen sind. Das ist ansteckend.“ Ohne die Peitsche von Prüfungen, die sie antreibt, folgen unbeschulte Kinder ihren eigenen Interessen und dies führt zu einer enormen Selbstmotivation. Maynard-Nicol erinnert sich an einen jungen Geschichtsfan, der schon im Alter von 12 Jahren als Dozent im Museum von Vancouver fungierte. Desweiteren, sagt sie, haben viele unbeschulte Kinder eine unternehmerische Ader und gründen schließlich ihr eigenes Geschäft.

Die beste Bestätigung für jene, die den Weg in die Hochschulbildung suchen, sind Universitäten wie Harvard und Standorf, die Aufnahmeverfahren für unbeschulte junge Menschen entwickelt haben, damit das Fehlen einer Abschlussnote kein Hindernis für die Immatrikulation darstellt. Ansonsten müssen unbeschulte junge Menschen üblicherweise einige Jahre Kurse am „Community College“ besuchen, bevor sie zum Universitätsstudium zugelassen werden. Dennoch gesteht Maynard-Nicol ein, dass das Leben ohne Schule nichts für jeden ist. „In einigen Familien funktioniert es. Aber nicht alle Eltern kommen damit zurecht, 24 Stunden pro Tag, 7 Tage pro Woche ihr Kind um sich zu haben.“

Rachel Klippenstein zählt zu den Dankbaren. Sie sagt, dass das Leben ohne Schule ihr die Möglichkeit eröffnet hat, sich auf ihre wahren Interessen zu konzentrieren und Spaß am Lernen zu haben. „Ich bin überzeugt, dass jeder von Natur aus wissbegierig ist.“, sagt sie. „Bei jedem beliebigen 4jährigen Kind kann man beobachten, dass sie ständig die Frage ‚Warum?’ auf den Lippen haben. Das Leben ohne Schule fördert die natürliche Neugierde.“ Zurzeit schreibt sie ihre Linguistik-Magisterarbeit über das „Kanadische Anheben“, eine Aussprache-Besonderheit, die bewirkt, dass Kanadier, anders als andere englische Muttersprachler, die Wörter „eyes“ und „ice“ unterschiedlich aussprechen. Dies gibt ihr die Gelegenheit, so sagt sie, endlich etwas zu erforschen, was sie seit Jahren interessiert. Ihre Einstellung würde das Herz jedes Professors – und das der Eltern unbeschulter Kinder – erwärmen: „Ich lerne die Dinge in meinen Kursen, weil sie mich interessieren und weil ich sie mag, nicht weil eine Prüfung bevorsteht.“, versichert sie.


© Copyright Daphne Gray-Grant


Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Erschienen in: Trek, Nr. 17, Winter 2003