Als
Rachel Klippenstein 10 Jahre als war, entdeckte sie ein englisches Buch
zu
Hause im Regal. Gefesselt von ihrer Entdeckung eines Textes in
Altenglisch,
Mittelenglisch und zeitgenössischem Englisch, verbrachte sie
Stunden damit, die
Absätze zu dekonstruieren und sie sorgfältig zu untersuchen
und zu vergleichen.
“Es
gefiel uns nicht, wie die Schule Menschen gleich machte.”, sagt er
über die
Entscheidung seiner Familie im Bereich der Bildung gegen den Strom zu
schwimmen. Er erinnert sich, wie die Bücher der Pädagogen
Frank Smith und John
Holt ihn inspirierten. „Sie argumentieren, dass man im Kontext der
Dinge lernt,
für die man sich interessiert. Wie
heißt es?
'Drill and kill.' Viele der Schulübungen zerstören nur das
Interesse am
Lernen.“
Der
20jährige Karsten Hammond, Bachelor of Science ’03, der mit
Auszeichnung seinen
Schluss in Biochemie gemacht hat, nachdem er von der 1. bis zur 11.
Klasse zu
Hause in Nelson, British Columbia, gelernt hatte, teilt seine Meinung.
Und
dennoch: wenn Sie vom Leben ohne Schule sprechen, gehen bei manchen
Leuten die
Alarmglocken an. Viele richten den Blick sofort auf das Thema
Sozialisation:
„Haben unbeschulte Kinder ausreichend Kontakt mit ihren
Altersgenossen?“,
fragen sie besorgt.
Gary
Knowles, Professor am Institut für Erziehungswissenschaften in
Ontario,
widerspricht dem nicht. Er vertritt allerdings den Standpunkt, dass
unbeschulte
Kinder durchaus dieser Art von Vielfalt ausgesetzt sind. Als jemand,
der seit
über 20 Jahren das Leben ohne Schule untersucht, sagt er, dass
Kinder, die zu
Hause lernen, oft besser sozialisiert sind als ihre Altersgenossen in
der
Schule. Immerhin verbringen Schulkinder den ganzen Tag in
Klassenräumen voller exakt
gleichaltriger Kinder, die der gleichen sozioökonomischen Gruppe
angehören. Ihr
Kontakt mit Erwachsenen beschränkt sich auf einige wenige Lehrer
und ihr
Kontakt mit alten Menschen und Kindern anderer Altersgruppen tendiert
oft gegen
Null. „Unbeschulte
Kinder knüpfen alle möglichen Kontakt zu Menschen ihrer
Gemeinde, basierend auf
vertikalen Gruppierungen, nicht auf horizontalen.“, so Knowles. Er
fügt hinzu:
„Die Schule ist kein Garant für gesundes Sozialverhalten. Oft
erlebt man Cliquenbildung in Schulen. Wenn
Kinder dagegen in Kleingruppen
miteinander arbeiten, ist die Chance gegenseitiger Akzeptanz
größer."
Seine
Ansichten hallen in den Worten von Jan Maynard-Nicol wider, einer
ehemaligen
Lehrerin, die 2001 promovierte und heute als Lehrplanberaterin
tätig ist. Maynard-Nicol
schrieb ihre Doktorarbeit über das Leben ohne Schule, nachdem sie
eine
Radiosendung über das Thema gehört hatte. „Ich saß im
Auto auf dem Weg zu einem
Seminar und hörte diese Dokumentation.“, erinnert sie sich.
„Zunächst dachte
ich, dass sich das alles ziemlich abgedreht anhörte, aber dann hat
es doch mein
Interesse geweckt.“ Nachdem sie mit anderen Lehrern und Eltern
gesprochen
hatte, beschloss sie mehr in Erfahrung zu bringen. „Als Lehrerin in der
Schule
wurde mir langsam klar, wie viel Zeit ich mit
Disziplinarmaßnahmen und dem
Einsammeln von Milchgeld verwendete.“
Maynard-Nicol
hat dann sechs Monate lang eine Gruppe unbeschulter Kinder aus
Vancouver
begleitet und sich über ihr Leben informiert. „Ich habe die
Erfahrung gemacht,
dass nur sehr wenige Eltern ihre Kinder in Abgeschiedenheit von der
Außenwelt
unterrichten.“, sagt sie. „Die meisten sind in verschiedenen Vereinen
aktiv,
gehen zum Gymnastikunterricht und gehören Jugendgruppen an. Viele
haben sich zu
Gruppen zusammengeschlossen und unternehmen regelmäßig etwas
miteinander. Sie
engagieren Menschen, die den Kindern Dinge wie afrikanisches Trommeln
oder
Französisch beibringen. Sie sitzen keineswegs die ganze Zeit nur
am
Küchentisch.“
Neben
der Sozialisation, sagt Maynard-Nicol, macht sich die
Öffentlichkeit häufig
Sorgen darüber, ob unbeschulte Kinder ohne die Disziplin von
Lehrbüchern,
Prüfungen und ausgebildeten Lehrern eine anständige Bildung
erlangen können.
Die Forschungsergebnisse, so sagt sie, haben gezeigt, dass der
Bildungsgrad der
Eltern irrelevant ist für den Erfolg des Lebens ohne Schule.
„Einige
Rechtssprechungen vertreten die Ansicht, dass die Eltern ausgebildete
Lehrer
sein sollten. Doch das Hauptkriterium, dass die Eltern selbst wirklich
neugierige Menschen sind. Das ist ansteckend.“
Die
beste Bestätigung für jene, die den Weg in die
Hochschulbildung suchen, sind
Universitäten wie Harvard und Standorf, die Aufnahmeverfahren
für unbeschulte
junge Menschen entwickelt haben, damit das Fehlen einer Abschlussnote
kein
Hindernis für die Immatrikulation darstellt. Ansonsten müssen
unbeschulte junge
Menschen üblicherweise einige Jahre Kurse am „Community College“
besuchen, bevor
sie zum Universitätsstudium zugelassen werden.
Rachel
Klippenstein zählt zu den Dankbaren. Sie sagt, dass das Leben ohne
Schule ihr
die Möglichkeit eröffnet hat, sich auf ihre wahren Interessen
zu konzentrieren
und Spaß am Lernen zu haben. „Ich bin überzeugt, dass jeder
von Natur aus
wissbegierig ist.“, sagt sie. „Bei jedem beliebigen 4jährigen Kind
kann man
beobachten, dass sie ständig die Frage ‚Warum?’ auf den Lippen
haben. Das Leben
ohne Schule fördert die natürliche Neugierde.“ Zurzeit
schreibt sie ihre
Linguistik-Magisterarbeit über das „Kanadische Anheben“,
eine Aussprache-Besonderheit, die bewirkt, dass Kanadier,
anders als andere englische Muttersprachler, die Wörter „eyes“ und
„ice“
unterschiedlich aussprechen. Dies gibt ihr die Gelegenheit, so sagt
sie,
endlich etwas zu erforschen, was sie seit Jahren interessiert.
Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Erschienen in: Trek,
Nr. 17, Winter 2003