Wie lehrt man, was man selbst nicht weiß?
von Deanna Piercy

Dies scheint eine weit verbreitete Sorge vieler zu sein, die der Ansicht sind, das Leben ohne Schule sollte reglementiert werden. „Die Kinder zu Hause lernen zu lassen mag in Ordnung sein, wenn die Eltern gebildet sind, aber was ist mit Eltern, die mit Ach und Krach ihren Schulabschluss geschafft haben?“ „Wie können diese Eltern ihren Kindern etwas beibringen, was sie selbst nicht wissen?“ „Sollte es nicht bestimmte Beschränkungen geben, wer seine Kinder zu Hause unterrichten darf?“ Auf den ersten Blick erscheint die Frage legitim. Schließlich erwarten wir auch von Lehrern an öffentlichen Schulen, dass sie die Gebiete studiert haben, die sie unterrichten (lassen wir mal außer Acht, dass aufgrund des Lehrermangels viele Lehrer Fächer unterrichten, für die sie nicht ausgebildet wurden). Wie um Himmels Willen können Eltern, die gerade mal die Grundrechenarten beherrschen, ihren Kindern Algebra oder Geometrie beibringen?

Ich habe festgestellt, dass es immens wichtig ist sicherzugehen, dass man die richtige Frage stellt, wenn man über etwas diskutiert. In diesem Fall müssen wir die Frage meiner Meinung nach anders formulieren. Sie sollte vielmehr lauten: „Kann ein Kind (oder auch jeder andere) lernen, ohne einen kompetenten und erfahrenen Lehrer an seiner Seite, der ihm Schritt für Schritt den Weg weist?“ Wenn wir es so betrachten, fallen uns allen sicherlich viele Dinge ein, die wir auf eigene Faust gelernt haben. So schreibe ich diesen Essay beispielsweise auf unserem Familiencomputer. Ich habe den Titel in einer anderen Schriftgröße geschrieben, in Fettdruck und unterstrichen. Ich kann Emails versenden und empfangen. Ich weiß, wie man „im Internet surft“. Habe ich Computerkurse besucht? Nein. Nachdem ich meine Skepsis überwunden hatte und schließlich den Versuch gewagt habe, habe ich diese Dinge mehr oder weniger selbständig gelernt. Meine Kinder haben mir auch verschiedene Dinge am Computer gezeigt. Und das ist genau das, worauf ich hinaus will. Wie haben die Kinder es gelernt? Ich habe keine Ahnung, aber ich weiß, dass sie „Computerexperten“ sind. Sie haben viel mehr Ahnung von Computern als ich und sie wenden dieses Wissen täglich an. 

Ein weiteres Beispiel des unabhängigen Lernens (das schließlich unser Ziel sein sollte) ist der Wunsch meiner Tochter Italienisch zu lernen. Eines Abends, als ich mich fertig machte, um schlafen zu gehen, sah ich Licht in Lisas Zimmer und ging hinein, um ihr „Gute Nacht“ zu sagen. Sie las in einem italienischen Wörterbuch! (Sie wundern sich vielleicht, warum wir überhaupt ein italienisches Wörterbuch besitzen, aber das ist eine andere Geschichte. Um es kurz zu machen: ich bin der Ansicht, dass man VIELE unterschiedliche Materialien im Hause haben sollte, einfach für den Fall, dass eines der Kinder ein plötzliches Interesse für etwas entwickeln sollte.) Ich fragte, warum sie darin las, und sie sagte, sie hätte beschlossen Italienisch zu lernen. Ich hatte ein teueres Französischkurspaket erstanden, das jetzt irgendwo im Schrank verstaubte. In der Schule und auf dem College hatte ich mehrere Jahre Französisch belegt. Man könnte also berechtigterweise erwarten, dass ich meinen Kindern helfen könnte Französisch zu lernen. Aber Italienisch?! Nun ja, ich dachte, das sei eine vorübergehende Laune meiner Tochter, und wenn nicht, dann würde ich ihr einen Italienisch-Lehrkurs besorgen. Ich vergaß das Ganze bis zum nächsten Nachmittag als sie mir erzählte, sie hätte einen kostenlosen Italienisch-Kurs im Internet gefunden und sich eingeschrieben. Auf die Idee, nach so etwas zu suchen, wäre ich nie gekommen, sie aber offensichtlich schon. Einige Monate sind seitdem vergangen und sie hat viel Spaß an den Lektionen. Sie schreibt Emails an ihre Lehrerin, wenn sie eine Frage hat und erhält immer eine prompte Antwort. Die Lehrerin hat auch ein Buch- und CD-Set entwickelt, das über das Internet-Angebot hinaus gehende Lektionen anbietet. Wir haben es gekauft und Lisa lernt weiterhin Italienisch, ohne meine Hilfe. Dies hat auch ihr Interesse an Italien geweckt, also haben wir uns ein Video über das Land angesehen, und ich halte ständig Ausschau nach interessanten Büchern über Italien.

Ich könnte von vielen anderen Dingen schreiben, die meine Kinder auf eigene Faust gelernt haben oder unter Anleitung einer anderen Person, nicht von mir. Klavier, Geige, Tennis, Fußball, Reiten, Ölmalerei, Erst Hilfe, Latein, Computer, Gebärdensprache, Unmengen von Katen aus der Musikwelt, Informationen aus der Sportwelt (sehr hilfreich für „Trivial Pursuit“), Schach und andere Dinge, zu viel zum Aufzählen. Wenn meine Kinder nur die Dinge wüssten, die ich ihnen explizit beigebracht habe, wären die eben erwähnten Dinge alle nicht Teil ihres Lebens.

Es gibt viele Arten zu lernen. Einen erfahrenen und kompetenten Lehrer mit einer Leidenschaft für sein Fach zu haben, ist eine wunderbare Methode, bestimmte Dinge zu lernen. Muss dieser Lehrer in Besitz einer Lehrbefähigung sein und sein Wissen einem ganzen Klassenraum voller Kinder vermitteln, um effektiv zu sein? Nein. Meine Kinder haben einige wundervolle Dinge von Menschen gelernt, die das Unterrichten niemals gelernt haben. Genauso ist es möglich, viele Dinge vollkommen eigenständig zu lernen, mit wenig oder gar ganz ohne Unterstützung eines anderen. Die Gemeinschaft der Familien mit unbeschulten Kindern hat wunderbare Arbeit geleistet und ausgezeichnete Lernmaterialien hervorgebracht, die es Schülern ermöglichen, sich alles, angefangen von der Algebra bis hin zu Zoologie, selbst anzueignen. Und vergessen wir nicht den Reichtum an Informationen, der uns in öffentlichen Bibliotheken oder im Internet zur Verfügung steht.

Eine der Schwierigkeiten, die es im Leben ohne Schule zu meistern gilt, ist, unsere vorgefassten Vorstellungen über Bord zu werfen, was Lernen und Lehren bedeutet. So gut wie alle Eltern unbeschulter Kinder haben öffentliche oder private Schulen besucht. Wir sind konditioniert zu glauben, dass Lernen von August/September bis Mai/Juni, Montag bis Freitag, von 9 bis 15 Uhr stattfindet, während man mit 20 oder mehr Altersgenossen am Pult sitzt, mit einem ausgebildeten Lehrer am Ruder, der gekonnt verschiedene Lernaktivitäten koordiniert. Wenn wir dieses Bild nicht hinter uns lassen können, ist schon vorprogrammiert, dass wir eine “Schule zuhause” erschaffen werden. Viele Familien mit unbeschulten Kindern tun genau das. Die Medien lieben es, Familien mit unbeschulten Kindern auf eine solche Weise zu präsentieren, dass sich die Zuschauer ausmalen, es gäbe einen Familienraum mit Pulten an der Wand aufgereiht, ordentlich gekleidete Kinder, die eifrig Arbeitsblätter ausfüllen, und eine Mutter, die vor der kleinen Wandtafel steht und unterrichtet. Einige Familien, deren Kinder keine Schule besuchen, passen tatsächlich in dieses Bild. Zum großen Teil leisten sie gute Arbeit darin, ihren Kindern zu einer Bildung zu verhelfen. Dennoch ist dies nicht das einzige korrekte Porträt des Lebens ohne Schule. Einige von uns haben versucht, diese übliche Sichtweise des Lernens hinter sich zu lassen, und beobachten, wie unsere Kinder die Welt erforschen. Wir versuchen uns vor Augen zu führen, dass unsere Kinder ohne spezielle “Lauf- und Sprechkurse” Laufen und Sprechen gelernt haben (zwei sehr komplexe Vorgänge). Wir unternehmen den Versuch, Notiz von dem Lernen zu nehmen, das in einer Familie mit geschäftigen und neugierigen Kindern pausenlos stattfindet. Wir entdecken, dass Gott uns dazu erschaffen hat, das Lernen zu lieben. Wir entdecken die Freude am Lernen in uns selbst wieder und teilen sie mit unseren Kindern. Wir bringen unseren Kindern bei, WIE man lernt, anstatt zu versuchen, ihre Köpfe mit Fakten voll zu stopfen. Wir erziehen unsere Kinder zu selbständig Lernenden, die auch mal über das Gewohnte hinaus denken können.

In einer ständig komplexer werdenden Welt, die eine irrsinnige Explosion neuer Technologie und neuen Wissens auf allen Gebieten erlebt, ist es dringend notwendig, dass wir unseren Kindern die Mittel und Werkzeuge des selbständigen Lernens mit auf den Weg geben. Vor kurzem las ich, dass die Halbwertzeit des medizinischen Wissens, also die Zeit, in der die Hälfte dessen, was man während des Medizinstudiums lernt, veraltet, fünfzehn Jahre beträgt. Stellen Sie sich nun diese Frage: wenn Ihr Arzt sein Medizinstudium vor 16 oder mehr Jahren abgeschlossen hat, was für ein Lerntyp sollte er Ihrer Vorstellung nach sein? Ich hoffe aufrichtig, dass er (oder sie) gelernt hat, selbständig zu lernen. Es ist einfach nicht mehr möglich (falls es das jemals war), jemandem eine festgelegte Menge an Wissen und Fähigkeiten beizubringen und dann zu sagen, dass er/sie eine ausreichende Bildung erhalten hat. Wenn es uns nicht gelingt ihnen beizubringen, wie man sich Zugang zu Informationen aller Art verschafft, wie man sich intensiv in ein Thema einarbeitet, wie man unterschiedliche Materialien ausfindig macht, kurz gesagt, wie man lernt, werden sie bald mit Bestürzung feststellen, dass sie dem Leben nicht gewachsen sind und mit den Veränderungen, mit denen sie zwangsläufig konfrontiert werden, nicht Schritt halten können. Wenn wir unsere Sache gut machen, unseren Kindern beizubringen, wie man lernt, können und werden sie einen Weg finden, all das zu lernen, was sie wissen müssen oder möchten, unabhängig davon, ob ihre Eltern Hochschulabsolventen sind oder Schulabbrecher.


© Copyright Deanna Piercy
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original-Artikel: www.tumon.com/porchswing/how.html