Das Ziel des Lebens ohne Schule ('unschooling')
von Heather Madrone

"Was macht ihr in den Sommerferien?" fragen mich die Leute, "Haben Eure Kinder dann Pause?"

Ich erwidere, dass wir es versucht haben.

"Zu Beginn jeden Sommers," erzähle ich, "teile ich den Kindern mit, dass das Schuljahr beendet ist. Sie sollen bis September nichts lernen."

(Wir tun das wirklich. Das ist ein Familienwitz. Die Kinder glucksen herum. Zwei Wochen lang sticheln sie: "Ich lerne! Komm her und halte mich auf!" und wir lachen alle über die Albernheit zu glauben, dass Lernen in einem Karton existieren kann.)

"Aber sie weigern sich einfach, mit dem Lernen aufzuhören!" geht die Geschichte weiter, "Also müssen wir bis September weitermachen. Was sollen wir tun? Wir könnten ihnen die Bücher wegnehmen, aber wir können sie nicht am Lernen hindert. Also geht das Lernen das ganze Jahr über weiter."

Diese Geschichte veranschaulicht besser, wie das Leben ohne Schule abläuft, als jede Definition, jeder Slogan oder jeder kurze Vortrag, den ich zu diesem Zweck ausgearbeitet habe.

Das Lernen ohne Schule, auch als "kindgesteuertes Lernen", "interessen-initiiertes Lernen", "Lernen durch Leben", "natürliches Lernen", "familien- und gemeinschaftsbasierte Bildung" und mit einer ganze Schar anderer ebenso unbefriedigender Begriffe bezeichnet, ist eine Bildungsphilosophie, die nur schwer festzunageln ist.

Das Leben ohne Schule beginnt mit dem Kind und dem natürlichen Durst des Kindes, alles über die Welt um es herum zu lernen. Wenn das Kind laufen lernt, fragen wir uns nicht, wie wir ihm beibringen können, seine Schritte richtig zu setzen. Statt dessen bewundern wir den inneren Drang, der es dazu treibt, immer wieder den Kampf gegen die Schwerkraft aufzunehmen. Es bleibt am Ball, bis es laufen kann, und beginnt dann, ohne Pause, zu rennen.

Im Falle meiner Kinder läuft das Lernen anderer Dinge nach dem gleichen Schema ab. Das Kind beschließt lesen zu lernen oder sich mit Mathematik zu beschäftigen. Dann wird es zu einer Art unaufhaltsamer Lernmaschine.

Das Lernen ohne Schule ist auf seinem Höhepunkt, wenn wir ein Kind beim Laufenlernen beobachten. Das Kind arbeitet ohne Unterlass an der anstehenden Aufgabe und die Eltern müssen rennen, um Schritt zu halten.

Obgleich Kleinkinder mehr oder weniger auf eigene Initiative laufen lernen, wird Ihnen jede Mutter und jeder Vater, die einem Kleinkind hinterherjagen, das gerade laufen lernt, bestätigen, dass auch sie hart arbeiten. Vater oder Mutter müssen für eine sichere und herausfordernde Umgebung für das Kleinkind sorgen. Sie müssen ein Auge auf das Kind haben, um die Sicherheit, die Bedürfnisse und den Gemütszustand des Kindes überwachen.

Eltern, deren Kinder ohne Schule lernen, sind idealerweise die meiste Zeit unsichtbar, aber das bedeutet nicht, dass sie abwesend ist. Die Eltern erschaffen eine Umgebung, in der die Kinder sich selbst unterrichten können. Sie stellen Material bereit und beobachten die Kinder, um sicher zu sein, dass das Material adäquat ist. Die Eltern bieten ein Vorbild an, leiten ihre Kinder durch die Art, wie sie leben. Eltern, deren Kinder ohne Schule lernen, sorgen für Gelegenheiten, etwas Neues auszuprobieren. Sie bieten Unterstützung, Ermunterung und Inspiration an. Sie sind greifbar, drängen sich aber nicht auf.

Eltern, deren Kinder ohne Schule lernen, geben den Kindern die Chance, Probleme zunächst selber zu lösen. Kinder, die ohne Schule lernen, lernen zu planen und ihre eigenen Projekte durchzuführen. Sie lernen, Verantwortung für ihre eigene Bildung zu übernehmen, sich auf die Herausforderungen, die im Leben vor ihnen liegen, vorzubereiten.

In unserer Familie tun die Kinder meist, was ihnen gerade Spaß macht. Sie lernen, was sie interessiert. Sie lernen durch Tun. Sie schließen sich auch an, wenn wir Hausarbeit erledigen und unterstützen uns bei den Aufgaben des Lebens. Sie verpflichten sich in der Gemeinde und halten ihre Verpflichtungen ein.

Das Ziel des Lebens ohne Schule ist es, lebenslanges, selbstbestimmtes Lernen zu fördern.
 

© Copyright Heather Madrone
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original-Artikel: www.nhen.org/newhser/default.asp?id=286
   

Weitere Literatur zum Thema

Madrone, Heather:
“Gently Lead, Gently Follow: How to Teach Your Homeschooling Family”
Erscheinungsdatum: Herbst 2003
Vorschau: www.madrone.com/GentlyFollow.htm