Ich
erhielt vor kurzem eine Karte von einem über achtzigjährigen
Freund, der in der
Oberstufe einmal mein Lehrer gewesen war, und ich erinnerte mich an
seine
letzte Bemerkung, die er in mein Zeugnis geschrieben hatte. Er fragte
großzügig: „Wer ist der Lehrer?“ Trotz seiner
Zugehörigkeit zur Institution
Schule war er aufgeschlossen genug, um an der Seite seiner Schüler
zu lernen
und zu erkennen, dass man eine ganze Menge erreicht, wenn man gemeinsam
nach
Wissen strebt. Besonders im letzten Jahr war dies eines der wichtigsten
Dinge,
die ich durch das gemeinsame Lernen mit meinen eigenen Kindern gelernt
habe.
Das selbstbestimmte Lernen führt uns auf alle möglichen
unerwarteten Lernpfade
und weit davon entfernt, uns in einer traditionellen
Schüler-Lehrer-Beziehung
mit unseren Kindern wieder zu finden, entdecken wir vielmehr, dass das
ganze
Leben dem Lernen dient und wir immer mehr lernen als wir geben
können.
Wenn
wir durch das Leben lernen und wenn die Quellen, die unsere Gedanken
speisen, die
gesamte Spannbreite von Unterhaltungen über alles Mögliche
bis hin zu stillen
Spaziergängen umfassen; von Wintermonaten, in denen Videos geguckt
und
Computerspiele gespielt werden, zu Sommerunternehmungen wie Zelten,
Kanu fahren
und Klettern; von langen Tagen des gemeinsamen Vorlesen zur
Himmelsbeobachtung,
stellen wir immer wieder fest, dass es sehr schwierig ist zu messen,
wie viel
Wissen sich aufbaut. Es mag wenige oder keine schriftlichen Zeugnisse
geben,
abgesehen von einigen Kritzeleien auf der Rückseite eines
Briefumschlags, keine
Lehrpläne und keine bunten Tabellen mit Lernzielen, die ordentlich
als “erreicht”
abgehakt werden. Was haben wir also all die Jahre gemacht und was haben
wir
gelernt?
Merkwürdigerweise
stellt diese Frage niemand in den ersten drei oder vier Jahren des
Lebens von
Kindern, wenn sie ohne die Hilfe von Plänen und formalen
Überwachungsprozeduren
eine unglaubliche Bandbreite von Fertigkeiten und Wissen erwerben. Wenn
die
Kinder aber älter werden, scheint es, dass wir nicht anders
können. Wir sind
konditioniert das Schlimmste zu befürchten, wenn man Kinder nicht
dazu bringt
zu lernen – das bedeutet unweigerlich sie zu unterrichten, ob in der
Schule
oder zu Hause. Ebenso sind wir konditioniert ständig zu
überprüfen, jedem
Lernen zu misstrauen, das nicht in regelmäßigen
Abständen gemessen wird. Fakt
ist jedoch, dass es beim Lernen zum großen Teil nicht um leicht
fassbares
Wissen und abprüfbare Fakten geht. Das meiste Lernen findet im
Inneren eines
Menschen statt, und das meiste von dem, was wir „wissen“ und was uns im
Leben
nützlich ist, ist nicht an der Oberfläche zugänglich.
Überdies wissen wir sehr
wohl, dass wertvolle Dinge einem Reifungsprozess unterliegen. Wenn wir
einen
Sack Zwiebeln pflanzen, warten wir ab, bis sie keimen und austreiben
und
schließlich die Blume zum Vorschein kommt. Wir buddeln sie nicht
ständig wieder
aus, um nachzusehen, wie weit sie schon sind, und wenn wir das
täten, erginge
es ihnen mit Sicherheit sehr schlecht. Das Gleiche gilt für das
Reich der
Gedanken. Gedanken erwachsen in Menschen; sie sind hauptsächlich
privater
Natur, vielschichtig, und nur ein kleiner Teil eines Gedankens gelangt
je in
artikulierter Form an die Oberfläche, und auch dann nur zu seiner
Zeit.
Trotz
des langsamen Starts meiner Familie fiel irgendwann der Groschen und
wir lernen
seit mehreren Jahren produktiv in Mustern miteinander, die dem
Außenstehenden
willkürlich erscheinen mögen oder die vielleicht
überhaupt nicht nach Lernen
aussehen. Unser eigenes Selbstvertrauen allerdings wuchs ständig;
unser
Vertrauen in diesen autonomen Prozess, der ständiges Engagement
erforderte,
aber nicht das Brimborium der traditionellen Vorstellung von Bildung.
Dieser
integrierte Lern- und Lebensstil ist uns sogar derart ins Blut
übergegangen,
dass uns die jüngste Wendung überrascht hat.
Die
Zwiebeln, die gepflanzt und gepflegt werden – bester Boden und beste
Verhältnisse vorausgesetzt – kommen über kurz oder lang
heraus und inszenieren
ein erstaunliches Frühlingsspektakel aus Farben, Duft und
Schönheit. Vielleicht
erhalten wir nicht das Ergebnis, das wir erwartet hatten – die
gemischte Tüte
mag einige Überraschungen enthalten – und genauso ist es im
wirklichen Leben.
Der Großteil dessen, was sich autonom bildende Kinder lernen,
bleibt in ihren
eigenen Köpfen verborgen, es ist nicht abprüfbar, wird oft
nicht einmal
artikuliert, aber einiges davon wird plötzlich aufblühen und
die
hervorgebrachten Gedanken können mitunter recht unerwartet sein.
Wie
nur haben sich aus den Jahren des Vorlesens, des Durchführens
einfacher
Experimente, des Kuchenbackens, des Fernsehens und des Redens und
Redens und
abermals Redens (in einem Tempo, das uns unglaublich erscheint, wenn
wir den
inneren Reifeprozess nicht mitverfolgen konnten) eine Liebe zur
Philosophie,
die Fähigkeit Literatur zu analysieren und zu dekonstruieren, ein
Durst nach
und ein Verständnis für komplexe naturwissenschaftliche
Methodologie und
Prinzipien oder die Fähigkeit künstlerischer Kreativität
mit entsprechender
Kunstfertigkeit Ausdruck zu geben, entwickelt?
Die
konventionelle Bildungstheorie sagt uns, dass wir solche Dinge nur
erreichen
können, indem wir sorgfältig formale Schritte befolgen oder
bereits in jungen
Jahren einen Stein auf den anderen bauen, aber unsere Erfahrung hat uns
das
Gegenteil bewiesen. Es
ist keine Zauberei. Das
Wissen von Kindern macht keinen
plötzlichen Sprung von Null zu naturwissenschaftlichen Kursen auf
Universitätsniveau, dennoch können sie ohne vorherige formale
Studien naturwissenschaftliche
Kurse an der Universität belegen, wenn sie es gewohnt sind durch
das Leben zu
lernen und wenn sie mit der Einstellung aufgewachsen sind, dass es
für jedes
Problem, dem sie begegnen, eine Lösung gibt – kurz gesagt, wenn
sie überzeugt
sind, dass sie alles tun können, Interesse und eine gewisse
Leidenschaft
vorausgesetzt.
Wir
sollten demnach nicht überrascht sein, wenn Kinder, die die
letzten acht oder
zehn Jahre scheinbar herumgegammelt haben und sich ein bisschen
hiermit, ein bisschen
damit beschäftigt und viel gespielt haben, sich plötzlich in
den Erwerb von
Fertigkeiten und Wissen stürzen, die viele erwachsene
Überlebende des formalen
Bildungssystems erbleichen lassen würden. Genau das ist uns vor
kurzem
passiert. Obgleich es uns nicht hätte überraschen dürfen
und all unsere Theorie
uns sagte, dass dies geschehen würde, hat es uns die Sprache
verschlagen als es
wahrhaftig eintrat.
Unsere
überaus gelassene Familie gleicht heutzutage einem emsigen
Bienenstock. Was uns
nach wie vor von einer konventionellen Lernumgebung unterscheidet, ist
die
Tatsache, dass alle Aktivitäten auf der Leidenschaft der
jeweiligen Person
basieren; es handelt sich nicht um akademische Plackerei auf
Geheiß des
Systems, sondern um Selbsterfüllung. In dieser neuen Emsigkeit
musste sich die
Art des elterlichen Beitrags natürlich den neuen Gegebenheiten
anpassen. Zurzeit
sind meine Tage einerseits damit gefüllt, Unterstützung zu
leisten bei der
Bewältigung von Studienprogrammen – voruniversitäre Kurse in
Philosophie, Biologie
und Literatur; Grundstudiumskurse in Naturwissenschaften und Kunst –
und
andererseits damit, die selbstbestimmte Lernumgebung aufrecht zu
erhalten, in
der Gespräche die Hauptrolle spielen.
In
diesem Zusammenhang kehre ich zu meiner ursprünglichen Frage
zurück: “Wer ist
der Lehrer?“. Mein eigener akademischer Hintergrund ist die Theologie
und, in
geringerem Maße, die Pädagogik und die Literatur. Als Teil
dessen habe ich auch
Philosophie studiert, aber die allgemeinere Philosophie, auf die ich
mich einlassen
musste, um eine Hilfe zu sein, war eine wunderbare Lernerfahrung.
Literatur war
eine wahre Freude, nicht unähnlich meines eigenen Studiums des
kreativen
Schreibens und meiner Arbeit als Verlegerin von Gedichten, aber mich
mit schwierigen
naturwissenschaftlichen Themen auseinanderzusetzen,
einschließlich der
zugehörigen Mathematik, war schon eine Erfahrung. Ich kann wohl
kaum von mir
behaupten die Lehrerin zu sein; stattdessen stehe ich einfach dem
Lernenden zur
Seite und gemeinsam bauen wir anhand der wundervollen Materialien der
Fernschule und der Fernuniversität das Wissen auf, das wir
benötigen.
Es
ist beruhigend zu erleben, dass all die Dinge, von denen ich immer
behauptet
habe, sie seien pädagogische Mythen, nichts als eben solche sind:
man kann sich
auf Hochschulniveau in die Physik stürzen ohne jegliches Vorwissen
auf dem
Gebiet und nicht nur zu Verständnis gelangen, sondern auch
Faszination
empfinden.
Kinder,
die sich autonom bilden, können alles lernen, was sie
möchten, angefangen beim
Tischlern bis hin zur Physik, von der Malerei bis zur Geschichte. Mehr
noch:
sie können dies tun ohne jahrelange geistlose Lektionen über
sich ergehen
lassen zu müssen, die nur dazu dienen, sie glauben zu machen, dass
Lernen ein
schwieriges Unterfangen ist und in derart kleinen Schritten vor sich
gehen
muss, dass sie dessen müde werden bevor sie ihre Ziele erreicht
haben. Dies ist
das Geheimnis, welches traditionelle Pädagogen nach aller
Möglichkeit nicht
preisgeben mögen – dass man seine Kindheit mit Spielen, Reden,
Backen, Wandern,
Höhlenbauen und Fernsehen verbringen und dabei dennoch alles
Wissen erwerben
kann, das man benötigt, um sich in jedes akademische Fach oder
jede praktische
Tätigkeit einarbeiten zu können, für welche man sich als
junger Erwachsener interessieren
mag. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn sich ein
Großteil der
Kinder und Eltern dessen bewusst würde!
Das
andere Geheimnis ist ebenso bedeutsam – Sie können Ihrem Kind
helfen alles zu
lernen, selbst etwas, wovon Sie keine Ahnung haben, und sogar etwas,
was Ihnen
früher großen Respekt eingeflößt oder dessen
bloßer Gedanke Sie in Angst und
Schrecken versetzt hat. Sie können dies aus dem gleichen Grund,
aus dem Ihre
Kinder ohne all jene Jahre des Schulbesuchs lernen können.
Bedingung ist nur,
dass es Ihnen so leidenschaftlich am Herzen liegt, Ihren Kindern zu
helfen,
dass sich Ihr Geist weit genug öffnet, um an ihrer Seite alles
erreichen zu
können, oder zumindest weit genug, um herauszufinden, wo Sie die
Unterstützung bekommen
können, die sie beide eventuell benötigen.
Eine
gedeihende Bildung hat nichts mit im Vorhinein festgelegten Resultaten
zu tun,
es geht vielmehr darum, dass jeder erreicht, was er für sich
erreichen möchte. Jahre
der formellen Vorbereitung, ständiges Testen und Überwachen
und Unterricht
durch jene, die sich selbst zu Hütern des Wissens erkoren haben,
sind nicht der
Schlüssel zur Bildung. Das Geheimnis liegt darin, zu tun, was
immer man möchte,
in dem Moment, in dem man den Wunsch spürt, es zu tun. Das
Geheimnis besteht
darin, Eltern zu haben, die vielleicht keine Experten sind, aber ebenso
aufgeschlossen wie ihre leidenschaftlichen, kreativen, wissbegierigen
Kinder.
Das Geheimnis ist, dass das Leben selbst die Bühne für unser
Lernen ist.
Ursprünglich veröffentlicht in "Life Learning : the International Magazine of Self-Directed Learning", Juli/August 2004, ISSN 1499-7533, S. 26 - 28.
Aus dem Englischen übertragen von S. Mohsennia.
Veröffentlichungen:
Weitere Informationen: