Nie zu spät
von Jan Fortune-Wood
Ich
hatte kürzlich Kontakt mit
einer unbeschulten Familie, die von den Behörden unter Druck
gesetzt wurde,
weil die zwei Kinder, beide unter zehn und beide Legastheniker, noch
nicht
lesen konnten. Die Wahrheit ist, dass es kein magisches Lesealter gibt.
Und
wahr ist auch, dass beinahe ein Drittel aller Schulabgänger in
Großbritannien
nach elf Jahren staatlicher Bildung und Tausenden von Stunden
strukturierten
Leseunterrichts funktionelle Analphabeten sind. Dennoch
bleibt die Fähigkeit lesen und
schreiben zu können, ein Bereich, in dem unbeschulte Familien,
besonders wenn
sie das natürliche Lernen favorisieren und die
Selbständigkeit und innere
Motivation der Kinder fördern, sehr verletzlich sein können,
und sie können
leicht unter Druck geraten, sich anzupassen.
Mein
Mann arbeitet zurzeit an
einem großen Forschungsprojekt in Großbritannien zum Leben
ohne Schule mit. Als
wir einige der Antworten auf die Frage, nach welchen Bildungsstilen die
unbeschulten Kinder lernen, durchgingen, stießen wir auf einen
ziemlich
traurigen Absatz von einer Mutter, die sagte, dass sie ihrer Tochter
ermöglichen wollte, sich in seinem eigenen Tempo zu entwickeln und
Dinge zu
lernen, wenn sie von selbst motiviert war, sie zu lernen. Als sie im
Alter von
acht Jahren allerdings noch immer nicht lesen konnte, fühlte sich
die Mutter
gezwungen, ihre Niederlage einzugestehen und zu akzeptieren, dass sie
ihre
Tochter zum Lesen würde zwingen müssen. Die Mutter wäre
gerne eine von denen
gewesen, die behaupten können, dass sie das Lesen "schmerz- und
mühelos" vermittelt hatten, aber sie sagte, dass sie sich
schließlich mit
der Realität abfinden und ihrem Kind das Lesen beibringen musste,
"bevor
es zu spät war".
Das
Ganze hat zwei Haken.
Erstens setzt dies die Annahme voraus, dass es ein Alter gibt, nach dem
es
"zu spät" ist, so dass wir gezwungen sind, präventiv zu
handeln,
selbst wenn es nicht das ist, was das Kind will. Und zweitens geht man
davon
aus, dass wir in Panik verfallen und auf Zwang zurückgreifen
sollten, wenn sich
die Lesefähigkeit nicht wie von "Zauberhand" einstellt.
Kinder
lernen in
unterschiedlichem Alter Lesen und unterschiedliche Menschen brauchen
unterschiedliche Hilfe und Unterstützung. Manche Kinder scheinen
wie durch
Osmose Lesen zu lernen – sie schnappen hier und da Hinweise auf und
legen los,
ohne jemals formalen Unterricht gehabt zu haben, sowohl ältere als
auch jüngere
Kinder lernen so Lesen. Andere Kinder verlangen nach einem
strukturierten
Vorgehen, allerdings haben sie nur Freude daran, wenn die Wahl und die
Kontrolle
in ihrer Hand liegen. Der "schmerzlos und mühelos"-Weg zum Lesen
ist
wunderbar für jene, die es auf diese Weise erlernen können,
und ich habe einige
großartige Beispiele gesehen. Am wichtigsten ist es aber, auf das
einzelne Kind
einzugehen.
Alle
möglichen kulturellen und
geschichtlichen Gründe haben das Lesen zu einem Barometer gemacht,
an dem wir
ablesen, wie erfolgreich unsere Kinder lernen und wie erfolgreich wir
als
Lehrer sind. Dies bedeutet unvermeidlich, dass unsere Gefühle
bezüglich dieser
Aktivität komplex sind und uns leicht in Sorge versetzen
können. Einer der
Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, ist das Urteil anderer – als
Befürworter eines alternativen Bildungsweges leben wir mit der
ständigen Anspannung
zu wissen, dass wir unter Beobachtung stehen und dass die Theoretiker
der
traditionellen Pädagogik nur darauf warten, auf Fehler
unsererseits hinweisen
zu können . Dies ist ein gutes Argument dafür, die
Privatsphäre unserer Kinder
zu schützen, nicht in dem Sinne, dass wir uns verstecken, sondern
einfach
dadurch, dass wir etwas Distanz schaffen zwischen dem Lernen unserer
Kinder,
welches aus ihrem Inneren heraus entsteht und der aufdringlichen
Fragerei.
Solche Fragesteller können nicht verstehen, dass es beim Lernen
nicht darum
geht, in einem festgelegten Alter die richtigen Kästchen
anzukreuzen; man wird
schnell müde der x-ten Person etwas zu erklären, von dem man
mit Sicherheit
weiß, dass sie es sowieso nicht glauben wird.
Viele
von uns Eltern haben
große Freude am Lesen, und wenn unsere Kinder nicht früh
lesen lernen, machen
wir uns Sorgen, dass sie etwas von diesen magischen Fantasiewelten
verpassen.
Freude ist ein hervorragendes Motiv für das Lesenlernen, aber nur
wenn es das
Motiv des Kindes ist; wir werden kaum seine Freude fördern, wenn
wir das Kind
zwingen, ganz im Gegenteil. Wir sollten nicht vergessen, dass das Lesen
aus
Freude an der Sache unter Schulkindern immer mehr abnimmt. Das gesamte
Harry-Potter-Phänomen
dreht sich zum großen Teil darum, wie erstaunlich es ist, ein
Buch zu finden, welches
ganze Scharen von Kindern tatsächlich lesen wollen.
Dies
ist eine schreckliche
Anklage gegen die herkömmliche Pädagogik. Es gibt keinen
automatischen oder
direkten Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zu lesen und der
Freude am Lesen,
und es existiert dementsprechend kein Grund zu befürchten, dass
das späte
Lesenlernen zur Folge haben könnte, dass ein Kind diese Freude nie
empfinden
wird. Ist die Fähigkeit ein echter Wunsch statt einer von
außen auferlegten
Pflicht, die es durchzustehen gilt, wird sich die Freude auch
einstellen. In
der Zwischenzeit können Kinder viel Freude an Büchern haben,
die sie nicht
selber lesen können; etwas vorgelesen zu bekommen kann in
zweierlei Hinsicht
eine angenehme Erfahrung sein, sowohl im Hinblick auf die vorgelesene
Geschichte, als auch hinsichtlich der Beziehung zum Vorlesenden.
Der
Schlüssel zum Lesen ist,
es mit einem Gebiet in Verbindung zu bringen, für welches sich das
Kind interessiert.
In verschiedenen Stadien und aus Gründen heraus, die nur die
Kinder selbst
kennen, kommen die meisten Kinder an einen Punkt, wo ihre Interessen
und
Beschäftigungen aus der Zeit, als sich nicht lesen konnten,
weniger spannend
oder überwältigend werden und das Kind nach neuen
Betätigungsfeldern sucht. Das
kann auch in der anderen Richtung funktionieren, wenn Lesen und
Interessen
untrennbar miteinander verbunden sind. Ein Kind interessiert sich
vielleicht
neuerdings für Fantasy- oder Computerspiele, stellt aber fest,
dass seine
Lesefähigkeit nicht ausreicht für seine Interessen. Mit
diesem neuen Ansporn
kann sich das Niveau der Lesefähigkeit sehr schnell
weiterentwickeln. Manchmal
rückt das Lesen selbst in den Mittelpunkt des Interesses,
vielleicht weil das
Kind, selbst wenn es ihm nicht bewusst ist, spürt, dass die
Fähigkeit zu lesen
ihm neue Interessensgebiete erschließen wird.
Die
fixe Idee, dass Kinder in
einem bestimmten Alter und in festgelegten Phasen lesen und schreiben
lernen,
erhält im konventionellen pädagogischen Denken Auftrieb durch
ein Netz von um
sich greifenden Mythen darüber, was gemeinhin als "grundlegende
Fähigkeiten" bezeichnet wird.
Dieser
Glaube, dass es ein
gewisses homogenes Wissen gibt, welches jeder beherrschen muss,
führt zu einer
strikten klischeehaften Vorstellung dessen, was als
"altersgemäßes"
Lernen erachtet wird, und zu der weit verbreiteten irrtümlichen
Annahme, dass
wirkliche Bildung etwas mit "Ausgewogenheit" zu tun hat. Autonom
lernende Familien nehmen diese irrtümlichen Annahmen für sich
nicht an;
unverzichtbare Lehrinhalte, Lernen nach einem vorbestimmten
Altersschema und
Ausgewogenheit sind alles Konzepte, die eine ernsthafte Bedrohung
darstellen
für die Motivation von innen heraus und die angeborene Neugierde
der Kinder und
ihren Trieb zu lernen.
In
britischen Schulen
verbringen Kinder im Rahmen der gegenwärtigen Strategie des
Leseunterrichts in
den ersten sieben Jahren der Primarstufe mindestens 1.960 Stunden
damit, lesen
zu lernen, während John Taylor Gatto geschätzt hat, dass ein
motiviertes und
interessiertes Kind die grundlegenden Fähigkeiten des Lesens und
des Rechnens
ohne weiteres in zusammengerechnet höchstens 100 Stunden erlernen
kann. Viele
unbeschulte Familien, die ihren Kindern ein autonomes Lernen
ermöglichen,
beweisen durch ihre Erfahrungen, dass eine grundlegende Fähigkeit
wie das Lesen
sogar in noch kürzerer Zeit erlernt werden kann, wenn die
Motivation, lesen zu
lernen, vollständig vom Kind ausgeht. Kurz gesagt vergeuden Kinder
in der
Schule ein Minimum von 1.910 Stunden im Leseunterricht.
Dennoch
macht mir diese
horrende Zeitverschwendung weniger Sorgen als der Schaden, den der
formale
Unterricht anrichtet; er schadet dem Denkprozess der Kinder und ihrer
Fähigkeit, ihren eigenen Lernprozess zu motivieren und zu steuern.
Kinder
verpassen die Gelegenheit, von innen heraus zu lernen und zu spielen.
Es
besteht die Möglichkeit, dass sie aufwachsen, ohne je wieder
Freude an einem
Buch zu haben. Ironischerweise steigt in unserer technischen
Gesellschaft das
Alter, in dem die Fähigkeit zu lesen notwendig ist für die
Teilnahme an vielen
Aktivitäten der Gesellschaft. Kinder können Computer
benutzen, Videospiele
spielen und visuell aufbereitete Informationen aufnehmen; ebenso
können sie die
traditionellen Freuden des Lernens durch Spiel und Kunst auskosten,
welches in
der Kindheit möglich ist. Erst viel später benötigen sie
die Fähigkeit,
symbolische Sprache entziffern zu können. Eltern unbeschulter
Kinder, die einem
autonomen Weg des Lernens folgen, wissen, dass ihre Kinder sich die
Fähigkeiten
aneignen werden, die sie benötigen, um sich ihre Umgebung zu Nutze
zu machen
und ihre Ziele zu erreichen. Wir wissen auch, dass die "unverzichtbaren
Lehrinhalte", wie auch immer man sie definiert, erworben werden, ohne
dass
man auf Lehrpläne, festgelegte Stunden oder Motivation von
außen zurückgreifen
muss.
Eltern,
die ihren Kindern ein
autonomes Lernen ermöglichen, sind in unserer Kultur
Außenseiter in der
Hinsicht, dass sie die innere Fähigkeit unserer Kinder, zu lernen,
respektieren
und darauf vertrauen, dass Kinder diese Fähigkeit zur rechten Zeit
und auf dem
richtigen Gebiet einsetzen werden und damit dem Ziel einer optimalen
Bildung
näher kommen. Wir sind uns ebenso in höchstem Maße
bewusst, dass es verheerende
Konsequenzen auf den Lernprozess haben kann, wenn wir diesen Respekt
für unsere
Kinder nicht aufbringen. Aufgabe einer autonomen Bildung ist es nicht,
eine
bestimmte Menge an grundlegenden Fähigkeiten zu vermitteln, die
systematisch
durchgearbeitet und auf dem Lehrplan abgehakt werden kann. Stattdessen
macht autonome
Bildung es sich zur Aufgabe, Kinder darin zu unterstützen, dass
sie erreichen,
was sie erreichen möchten, und dass sie entsprechend ihrer eigenen
inneren Motivation
ihren kreativen und individuellen Platz in der Welt finden. Auf diese
Weise mit
seinen Kindern umzugehen, verlangt Eltern in dem heutigen
bildungspolitischen
Klima großen Mut ab. Es erfordert ein bedeutendes Maß an
Vertrauen in unsere
Kinder im Speziellen, in die innere Motivation des Menschen, zu lernen,
im
Allgemeinen, und in unsere Rolle als höchst engagierte Eltern und
Lehrpersonen.
Der Mut und das Vertrauen entspringen einerseits dem Leben in einer
Umgebung
des lebenslangen Lernens und des gegenseitigen Einverständnisses
und
andererseits einem Netzwerk von Gleichgesinnten, welches die
Unterstützung
eines solchen Lebensstils gewährleistet. Wir mögen in der
Minderheit sein, aber
ich persönlich weiß, dass Kinder das Lesen und alle anderen
der so genannten
grundlegenden Fähigkeiten auf unterschiedliche Weise und über
ein breites
Altersspektrum verteilt erlernen, ohne jeglichen Stress durch Zwang und
ohne
allgemeine Beeinträchtigung des Lernprozesses oder den Verlust der
Liebe für
Bücher. Innere Motivation kommt nie zu spät.
© Copyright Jan Fortune-Wood
Ursprünglich veröffentlicht in "Life
Learning : the International Magazine of Self-Directed Learning",
Mai/Juni
2004, ISSN 1499-7533, S. 25-27.
Aus dem Englischen übertragen von S. Mohsennia.
Veröffentlichungen:
Weitere Informationen:
17.8.2004