Viele Eltern von Kindern, die keine Schule besuchen, sind sich im Unklaren über den Unterschied zwischen "Anleitung" und "Manipulation". Als Mutter, die ich mich mit meinem Sohn Jason, jetzt 17, dem Leben ohne Schule (vom Lernenden gesteuertes Lernen zu Hause) verschrieben hat, frage ich mich manchmal, ob ich ihn zu bestimmten Aktivitäten ermuntern sollte, obwohl er von seiner Seite aus kein Interesse zeigt, oder ob ich ihn wenigstens an Gebiete erinnern sollte, die er eine Zeit lang ignoriert hat.
Vor allem wenn ich etwas über ein Kind mit ungewöhnlicher Hingabe gelesen hatte, das sich in einem bestimmten Gebiet hervortat, wie z.B. Musik, stellte ich mir diese Fragen. In diesen Momenten erinnerte John Holt mich mit seinen inspirierenden Büchern daran, dass Vertrauen die wichtigste Zutat des Lebens ohne Schule war.
Während es wirklich wichtig ist, dem Kind eine Vielfalt an Themen zugänglich zu machen, glaube ich, dass das ohnehin beinahe unvermeidlich ist. Dies ist das Informationszeitalter. Kinder sind umgeben von Informationen aller Art, durch Unterhaltungen, Bücher, das Fernsehen, Filme, das Internet, Geschäfte und die Natur. Eines Tages als Jason fünf war, befragte er mich über die Oper. Dies überraschte mich, da wir über dieses Thema nie gesprochen hatten. Ich fragte ihn, was ihn auf die Frage gebracht hatte, und erfuhr, dass es ein Disney-Zeichentrickfilm gewesen war! Er stellte mir mehrere Fragen über die unterschiedlichen Typen von Opern, und wir unterhielten uns kurz darüber. Obwohl ich mich selber nicht für dieses Thema interessierte, vertraute ich darauf, dass er wissen würde, ob und wann er mehr Informationen wollen würde. Er wusste, dass es in unserer Enzyklopädie Artikel über die Oper gab und dass er in der Bibliothek zusätzliche Informationen finden könnte, oder bei Leuten, die sich auf diesem Gebiet auskannten. (Heutzutage findet man natürlich auch zu praktisch jedem Thema etwas im Internet.) Während die Vorbildfunktion der Eltern hilfreich sein kann, wird das Interesse, das Vater oder Mutter zeigen, von wenig Wert sein, wenn es nicht aufrichtig ist; ich würde nie ein Interesse an der Oper oder and etwas anderem vortäuschen. Über die Jahre habe ich oft erlebt, dass er sich mit Themen sehr intensiv beschäftigt hat, obwohl ich keinerlei Interesse dafür zeigte, und ich habe ihm vertraut, auf diese Weise seinen eigenen "Lehrplan" aufzustellen.
Entweder Jason "fährt auf ein Fach ab" oder nicht – wer weiß schon warum? Anfangs interessierte er sich stark für Kunst, Astronomie, Mathe und Physik; und über die Jahre hat er auch andere Gebiete studiert. Was hätte man gewonnen, wenn man von ihm verlangt hätte, diese Gebiete früher zu studieren? Das wahrscheinlichste Resultat wären Abneigung, Frustration und weniger Interesse an dem betroffenen Gebiet gewesen. Wenn ich ihm vertraue, dass er weiß, was er lernen muss und wann er es lernen muss, entwickelt er eines Tages vielleicht Interesse für die Gebiete, die er bis dahin "ausgelassen" hat, und mit dieser Art von innerer Motivation kann er sie schnell lernen. Selbst wenn er ein Fach sein ganzes Leben lang "auslässt", gibt es wenig Grund zur Sorge. Schließlich interessiert sich nicht jeder für alles, und nicht jedes Studiengebiet ist unentbehrlich, um ein gutes Leben zu leben.
Unter bestimmten Umständen sollten wir wichtige Konzepte lenken und vorleben, die Kinder vielleicht nicht von allein lernen – die Vermeidung von Gefahr, konstruktives Umgehen mit Wut, friedliche Konfliktlösungsstrategien, Mitgefühl für andere und so weiter. Aber passt Shakespeare wirklich in diese Kategorie? Ich glaube nicht, und abgesehen davon, wozu die Eile? Es scheint die unausgesprochene Annahme in unserer Gesellschaft zu gelten, dass wir mit unserem Leben ohne Schule versagt haben, wenn ein Kind nicht bis zum Alter von zehn Jahren jedes Fach beherrscht. Aber ein Kind hat sein ganzes Leben Zeit zu lernen, was es als Erwachsenen interessiert; der Befürworter des Lebens ohne Schule John Holt demonstrierte dies sehr schön, als er mit rund fünfzig Jahren lernte, Cello zu spielen.
Kinder sind sehr versiert darin, unsere versteckten Botschaften zu empfangen. Ungeachtet dessen, wie vorsichtig wir es formulieren - wenn wir einem Kind sagen, dass eine bestimmte Tätigkeit notwendig ist, deuten wir immer unterschwellig an, dass die Tätigkeit so unerfreulich oder schwierig sein muss, dass das Kind dies niemals von selbst tun wollen würde; warum würden wir uns sonst die Mühe machen, es zu verlangen? Niemand hat je von einem Kind verlangt, Eis zu essen!
Ein weiteres Problem ist, dass wir potenzielle Bestrafung implizieren, wenn wir vom Kind verlangen, etwas zu tun. Was passiert, wenn das Kind sich weigert? Wenn wir eine bestimmte Aktivität einfordern und das Kind unfähig oder unwillig ist, unserer Aufforderung nachzukommen, dann werden wir in eine Position gedrängt, wo wir entweder die Forderung zurücknehmen oder das Kind bestrafen müssen (wenn wir nichts tun, haben wir die Aufforderung von Anfang an nicht wirklich ernst gemeint.) Wenn wir es bestrafen, senden wir dem Kind viele schädliche Botschaften. Wie Susannah Sheffer, Herausgeberin des Mitteilungsblattes "Growing without schooling" (Ohne Schule aufwachsen), einmal bemerkte, ist es ein Fehler, Lernen mit Zwang vorantreiben zu wollen, weil "es unhöflich ist und vermutlich ohnehin nicht funktionieren wird, und man so viel riskiert, wenn man dies tut."1 Eine Antwort auf die Frage "Wann wird Anleitung zur Manipulation?" ist vielleicht: "wenn sie als Drohung daher kommt".
Das Ziel des Lebens ohne Schule ist es, ein Kind dabei zu unterstützen, zu lernen wie man lernt. Gleichzeitig sollten wir nicht diktieren, was das Kind lernen soll oder wann das Lernen stattfinden muss. Die einfache Wahrheit ist, wie John Holt uns so oft in Erinnerung ruft, dass wir Kindern vertrauen können und sollten.
1 Sheffer, Susannah, in: Growing without
schooling, Nr. 75, S. 4-5
© Copyright Jan Hunt
Ursprünglich veröffentlicht in "Growing without schooling", Nr. 76, S. 26.
Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: www.naturalchild.org/jan_hunt/guidance.html