Ein Baby schreit
von Jan Hunt

Stellen Sie sich einen Moment lang vor, dass Sie von einem Raumschiff zu einem fernen Planeten entführt wurden und Sie von riesigen Fremden umgeben sind, deren Sprache Sie nicht sprechen. Zwei von diesen Fremden würden Sie unter ihre Obhut nehmen. Sie sind zur Befriedigung all Ihrer Bedürfnisse vollkommen von ihnen abhängig – Hunger, Durst, Trost, und vor allem Bestätigung – dass Sie an diesem fremden Ort in Sicherheit sind. Dann stellen Sie sich vor, dass etwas gründlich schief läuft – Sie haben Schmerzen, oder furchtbaren Durst, oder brauchen emotionale Unterstützung. Aber Ihre beiden Aufseher ignorieren Ihre verzweifelten Rufe, und Sie schaffen es nicht, sie dazu zu bewegen, Ihnen zu helfen oder Ihre Bedürfnisse zu verstehen. Nun haben Sie ein anderes Problem, noch gravierender als das erste: Sie fühlen sich völlig hilflos und allein in einer fremden Welt.

In all seiner Unschuld nimmt ein Baby an, dass wir, als Eltern, recht haben, dass was immer wir tun das Richtige ist. Wenn wir nichts tun, kann das Baby daraus nur schließen, dass es nicht geliebt wird, weil es nicht liebenswert ist. Es liegt außerhalb seiner Fähigkeiten, zu schließen, dass wir einfach nur beschäftigt, abgelenkt, besorgt, von "Experten" irregeführt oder nur als Eltern unerfahren sind. Wie sehr wir auch unser Baby lieben, ist es doch hauptsächlich der Ausdruck dieser Liebe nach außen, den das Baby verstehen kann.

Niemand mag es, wenn seine Mitteilungen ignoriert werden, und wenn sie doch ignoriert werden, ruft das Gefühle der Hilflosigkeit und der Wut hervor, die unweigerlich der Beziehung schaden. Es scheint, dass alle Erwachsenen auf eine solche eine Antwort so reagieren, und es gibt keinen Grund zu vermuten, dass das bei Babys und Kindern anders sein sollte. Wenige Menschen würden einen Erwachsenen ignorieren, der mehrfach sagt: "Können Sie mir helfen? Mir geht es nicht gut." Solch eine Bitte zu ignorieren würde als höchst unfreundlich angesehen. Aber ein Baby kann eine solche Bitte nicht äußern; es kann nur schreien und weinen, bis jemand reagiert – oder bis es verzweifelt aufgibt.

Sofortige Reaktion auf das Schreien eines Babys wurde Tausende von Jahren lang bis vor kurzem nie in Frage gestellt. In unserer Kultur gehen wir davon aus, dass es normal und unvermeidlich ist, dass Babys schreien. Bei Naturvölkern dagegen werden Babys die ersten paar Monate die meiste Zeit des Tages und der Nacht am Körper getragen, daher ist Schreien selten. Im Gegensatz zu dem, was viele in unserer Gesellschaft erwarten würden, werden Babys, für die auf diese Weise gesorgt wird, früher selbständig und unabhängig als Babys, denen eine solche Fürsorge nicht zuteil wurde.

In der Tat zeigt die Forschung über Erfahrungen in der frühen Kindheit übereinstimmend, dass Kinder, die im Babyalter die liebevollste Fürsorge genossen haben, sich zu sicheren und liebenden Erwachsenen entwickeln, während jene Babys, die zu Gehorsam gezwungen wurden, Gefühle der Abneigung und der Wut aufbauen, die später vielleicht auf schädliche Weise ausgedrückt werden.

Trotz dieser Forschungsergebnisse basieren die meisten Argumente für das Ignorieren des Schreiens auf den Befürchtungen, das Baby zu "verwöhnen". Eine typische Säuglingspflegebroschüre rät den Eltern, "das Baby für eine Weile die Situation allein bewältigen zu lassen". Obwohl das Babyalter für Eltern eine anspruchsvolle Zeit sein kann, ist ein Baby einfach zu jung und unerfahren, um mit dem Anlass für das Schreien allein fertig zu werden, was auch immer er sein mag. Es kann sich nicht selbst ernähren, kann seine Windel nicht wechseln, oder sich auf eine Weise trösten, die von der Natur so vorgesehen ist. Es liegt ganz klar in der Verantwortung der Eltern, die Bedürfnisse des Babys nach Pflege, Sicherheit und Liebe zu befriedigen, nicht die Verantwortung des Babys, die Bedürfnisse der Eltern nach Ruhe und Einsamkeit zu erfüllen.

Die Broschüre unterstellt, dass Eltern ihrem Baby helfen, reifer zu werden, indem sie ihm eine Gelegenheit geben, Eigenständigkeit zu entwickeln. Aber ein Säugling ist einfach nicht bereit für diese Reife. Echte Reife reflektiert ein starkes Fundament an emotionaler Sicherheit, die in den frühen Jahren nur durch die Liebe und die Unterstützung derjenigen zustande kommen kann, die ihm am nächsten stehen.

Eine unreife Person kann auf Stress nur auf eine unreife Art reagieren. Ein Baby, dem sein Geburtsrecht auf Trost von seinen Eltern versagt wird, reagiert darauf vielleicht, indem es sich in ineffektiver Selbststimulation (mit dem Kopf gegen einen Gegenstand schlagen, rhythmisches Schaukeln, Daumenlutschen, etc.) und emotionalen Rückzug flüchtet. Wenn seine Bedürfnisse regelmäßig ignoriert werden, beschließt es vielleicht, dass Einsamkeit und Verzweiflung dem Risiko von weiterer Enttäuschung und Zurückweisung vorzuziehen sind. Unglücklicherweise kann dieser Entschluss, wenn er einmal gefasst wurde, zur permanenten Anschauung werden und zu einem emotional verarmten Leben führen.

Viele Menschen, die im Bereich der Kinderbetreuung arbeiten, sind der Ansicht, dass die elterliche Förderung von Selbsttrost und übermäßigem Ersatz durch materielle Dinge zu einem Zeitalter des materiellen Besitzes, der persönlichen Einsamkeit und des Mangels an emotionaler Erfüllung geführt hat: Teddybären ersetzen die Eltern, Kinderwagen ersetzen die Arme, Krippen ersetzen das gemeinsame Schlafen, Schnuller ersetzen das Stillen, Spielzeug ersetzt die Aufmerksamkeit der Eltern, Musikanlagen ersetzen Stimmen, Fertigmilchnahrung ersetzt die Muttermilch, Babyschaukeln ersetzen den Schoß.

Das Schreien eines Babys zu ignorieren, ist wie Ohrstöpsel zu verwenden, um den nervigen Lärm eines Rauchmelders zu beenden. Der Lärm des Rauchmelders soll uns auf ein schwerwiegendes Problem aufmerksam machen, das eine Reaktion von uns erfordert. Und genau diese Funktion hat auch das Schreien eines Babys. Wie Jean Liedloff in "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" schrieb: "Das Schreien eines Babys ist genau so ernst gemeint wie es klingt."

So belastend es auch sein mag, sollte das Schreien eines Babys nicht als Machtkampf zwischen Eltern und Kind gesehen werden, sondern als Geschenk der Natur, wodurch sichergestellt wird, dass alle Babys zu Erwachsenen mit einer großzügigen Fähigkeit, zu lieben und zu vertrauen, heranwachsen.
 

© Copyright Jan Hunt
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: www.naturalchild.org/jan_hunt/babycries.html