"Lernschwäche" : eine Rose unter einem anderen Namen
von Jan Hunt

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen eine Pflanzenschule. Sie hören draußen Tumult und gehen dem nach. Sie finden einen jungen Assistenten, der mit einem Rosenbusch kämpft. Er versucht gewaltsam, die Knospen einer Rose zu öffnen, und brummelt frustriert vor sich hin. Sie fragen ihn, was er da tut, und er erklärt: "Mein Chef möchte, dass alle Rosen diese Woche blühen, also habe ich letzte Woche die frühblühenden mit Klebeband versehen und jetzt öffne ich die spätblühenden." Sie protestieren und sagen, dass jede Rose ihren eigenen Zeitplan zum Blühen hat; dass es absurd ist, diesen verlangsamen oder beschleunigen zu wollen; dass es unerheblich ist, wann Rosen blühen; dass eine Rose immer blühen wird, wenn ihre Zeit gekommen ist. Sie wenden sich wieder der Rose zu und sehen, dass sie welk ist. Aber als sie darauf hinweisen, antwortet der Assistent: "Tja, das ist Pech, sie hat eine angeborene Blühschwäche. Ich werde einen Experten hinzuziehen müssen." "Nein, nein!", antworten Sie, "Sie sind schuld, dass sie welkt! Sie brauchen einfach nur die Bedürfnisse der Blumen nach Wasser und Sonnenschein zu erfüllen, und den Rest überlassen Sie der Natur!" Sie können nicht fassen, was sich da abspielt. Warum ist sein Chef so unrealistisch und uninformiert über Rosen?

Solch eine Szene würde sich in einer Pflanzenschule natürlich nie abspielen, aber dies ist, was täglich in unseren Schulen geschieht. Lehrer, gedrängt von ihren Vorgesetzten, folgen offiziellen Zeitplänen, die verlangen, dass alle Kinder im gleichen Tempo lernen und auf die gleiche Weise. Dabei sind Kinder in ihrer Entwicklung nicht anders als Rosen: sie werden geboren mit der Fähigkeit und dem Wunsch zu lernen, sie lernen in unterschiedlichem Tempo und sie lernen auf verschiedene Art und Weise. Wenn wir ihre Bedürfnisse erfüllen, eine sichere, förderliche Umgebung schaffen und uns nicht ständig mit unseren Zweifeln, Ängsten und willkürlichen Zeitplänen einmischen, dann werden sie – wie Rosen – alle aufblühen, wenn ihre Zeit gekommen ist.

Mir tun all jene Kinder leid, die als "ADHS" ("Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung"), das neueste "Lernschwäche"-Etikett, abgestempelt worden sind. Viele Pädagogen und Wissenschaftler glauben, dass die betroffenen Kinder und ihre Familien durch den Gebrauch dieser Bezeichnungen auf brutale Weise betrogen wurden. Dr. Thomas Armstrong, ein ehemaliger Spezialist für Lernschwächen, hat seinen Beruf gewechselt, als er "feststellte, wie diese Betrachtungsweise von Lernstörungen all unsere Kinder behindert, weil sie die Schuld für die Lernmisserfolge des Kindes auf geheimnisvolle neurologische Defizite im Gehirn schiebt anstatt auf eine dringend notwendige Reform unseres Bildungssystems." Dr. Armstrong wandte sich stattdessen dem Konzept der unterschiedlichen Lernstile zu und schrieb "In their own way", ein faszinierendes und praxisorientiertes Buch über sieben "persönlichen Lernstile", die der Harvard-Psychologe Howard Gardner erstmalig vorgestellt hatte. Dr. Armstrong ruft uns auf, die bequemen, aber schädlichen Etiketten wie "Lese- und Rechtschreibschwäche" aufzugeben und uns auf das wirkliche Problem der "Lehrschwäche" zu konzentrieren. Er warnt uns, dass "unsere Schulen Millionen von Kindern ihrer Chance berauben, indem sie diese als Versager abschreiben, obwohl sie in Wirklichkeit nur durch schlechte Lehrmethoden behindert werden."

Armstrong erklärt: "Kinder werden mit diagnostischen Begriffen wie Dyslexie, Dysgraphie (Lese- bzw. Rechtschreibschwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche) und dergleichen abgestempelt, die den Eindruck aufkommen lassen, sie litten an einer seltenen, exotischen Krankheit. Dabei ist Dyslexie nur lateinisches Kauderwelsch und bedeutet 'Problem mit Worten'... Hunderte von Tests und Programmen geben vor, diese "neurologischen Störungen" zu erkennen und zu beseitigen. Allerdings haben Ärzte noch keine messbaren Hirnschäden bei der überwältigenden Mehrheit der Kinder mit diesen sogenannten Symptomen feststellen können. Es scheint mir nach fünfzehn Jahren Forschung und Praxis auf diesem Gebiet der Pädagogik eindeutig zu sein, dass unsere Schulen weitgehend für das Versagen und die Langeweile verantwortlich sind, mit denen Millionen von Kindern sich konfrontiert sehen...".

Sind Lernstörungen des "Kaisers neue Kleider" für die Schulen? Die Philosophen haben ein interessantes Instrument, Ockhams Rasiermesser genannt, ein handliches Mittel, um sinnlose Theorien von der Hand zu weisen: "Die einfachste Theorie, die den Fakten eines Problems entspricht, ist diejenige, die ausgewählt werden sollte." Was sind die Fakten? Tatsache ist, dass viele Schulkinder, hauptsächlich männliche, Lernschwierigkeiten haben. Ebenso ist es aber auch Tatsache, dass es eine Gruppe von Hunderttausenden von Kindern in der ganzen Welt gibt, sowohl männliche als auch weibliche, die nicht an diesem "genetischen" Defekt leiden: Kinder, die keine Schule besuchen. In dieser Gruppe sind Lernschwierigkeiten praktisch unbekannt, außer bei den Kindern, die bis vor kurzem zur Schule gegangen sind.

Wenn "Lernschwierigkeiten" bei Kindern auftreten, die eine Schule besuchen, und andernfalls nicht-existent sind, muss das Problem in der Lernumgebung der Schulen liegen, nicht in einer rätselhaften, nicht quantifizierbaren "neurologischen Funktionsstörung" in den Kindern – sonst würde das Problem auch bei Kinder bestehen, die nicht zur Schule gehen. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass Schulen es nicht schaffen, ihrer Aufgabe nachzukommen: in vielen Regionen sinken die Alphabetisierungsraten und haben nie das Niveau erreicht, auf dem sie vor der Existenz von öffentlichen Schulen waren. Wenn John Gatto, der 'Lehrer des Jahres' des Staates New York, die Schulpflicht als "Verurteilung zu zwölf Jahren Gefängnis" bezeichnet, wissen wir, dass irgendetwas ganz furchtbar falsch läuft und dass die Schuld nicht bei den Kindern liegt.

Sind Etikettierungen wie "hyperaktiv", "Schulphobie" und "lernbehindert" künstliche Nebelschleier für die Unfähigkeit der Schule, den wirklichen Prozess des Lernens zu verstehen und im Einklang damit zu handeln? Keine geringere Expertin als Mary Poplin, ehemalige Herausgeberin der Zeitschrift "Learning Disabilities Quarterly", räumte kürzlich ein, dass "die quantitative Forschung keinen Beweis erbracht habe, dass Lernstörungen objektiv ermittelt werden können... Versuche, objektive Kriterien aufzustellen, um nachzuweisen, dass es sich um Probleme des einzelnen Menschen handelt, sind eine willkommene Verschleierung, hinter der wir unsere Inkompetenz zu lehren verstecken können." Der Pädagoge John Holt berichtet in "Teach your own", dass der Präsident eines führenden Verbandes für Lernstörungen eingestand, dass es "wenig Beweise für die Gültigkeit dieser Etikettierungen gibt". Holt warnt Eltern von Schulkindern, "extrem skeptisch zu sein gegenüber allem, was die Schulen und ihre Spezialisten über ihre Kinder und über den Zustand und die Bedürfnisse der Kinder zu sagen haben. Vor allem sollten sie sich im Klaren darüber sein, dass mit ziemlicher Sicherheit die Schule selbst und all die Anspannungen und Ängste, die sie mit sich bringt, die Schwierigkeiten hervorrufen, und dass es vermutlich die beste Behandlung sein wird, die Kinder ganz aus der Schule zu nehmen."

Familien, die genau das getan haben, sind erleichtert, wenn sie merken, dass ihre Kinder zu der Liebe zum Lernen zurückfinden, die sie in der frühen Kindheit an den Tag gelegt hatten. Im Gegensatz zu Schullehrern, die jedes Jahr einen Querschnitt von verschiedenen Kindern sehen, beobachten Eltern, deren Kinder keine Schule besuchen, wie das Lernen über viele Jahre hinweg im gleichen Kind vonstatten geht, und lernen so, den einzigartigen Lernstil jedes Kindes zu respektieren, dem persönlichen Zeitplan des Kindes zu vertrauen und zu erkennen, dass Fehler für jedermann ein normaler und vorübergehender Teil des Lernprozesses sind. (Es gibt letzten Endes keinen Grund zur Eile; viele Kinder, die nicht zur Schule gegangen sind und erst mit zehn oder zwölf Jahren lesen gelernt haben, haben in der Universität sehr gute Noten erzielt.) Die entspannte Einstellung auf Seiten der Eltern sorgt dafür, dass das Selbstwertgefühl des Kindes, das nicht zur Schule geht, intakt bleibt, lässt Etiketten irrelevant werden, und ermöglicht, dass das Lernen so leicht vor sich geht wie in der frühen Kindheit: Kinder, die keine Schule besuchen, schneiden in Bezug auf akademische Leistung, Sozialisation, Vertrauen und Selbstwertgefühl regelmäßig besser ab als ihre Altergenossen, die zur Schule gehen. Tatsächlich berichtet Gatto, dass "Kinder, die zu Hause lernen, in ihrer Denkfähigkeit ihren beschulten Altersgenossen scheinbar fünf oder gar zehn Jahre voraus sind."

Über viele Jahre hinweg forderte Holt Schulen auf, "den Unterschied zwischen Lernschwierigkeiten (die wir alle hin und wieder durchmachen) und einer Lernstörung zu erklären". Er fragte Lehrer, wie sie unterscheiden zwischen Gründen, die im Nervensystem des Lernenden verankert sind, und Faktoren, die außerhalb des Lernenden liegen – in der Lernumgebung, den Erklärungen des Lehrer, dem Lehrer selbst oder im Lernmaterial. Es überrascht nicht, zu erfahren, dass er "nie eine verständliche Antwort auf diese Fragen bekam... [und doch] ist dieser Unterschied so entscheidend, dass ich nicht verstehe, wie wir sinnvollerweise über die Lernprobleme von Kindern sprechen können, ohne diesen Unterschied zu machen." Warum sind dann Lehrer so sicher, dass neurologische Störungen weit verbreitet sind? Vielleicht verwechseln sie Ursache und Wirkung; Holt stellt fest: "Lehrer sagen 'Lesen muss schwierig sein, sonst hätten nicht so viele Kinder Probleme damit.'" Holt argumentiert, dass "so viele Kinder Probleme mit dem Lesen haben, weil wir davon ausgehen, dass es schwierig ist... alles, was wir mit unserer Besorgnis, unserer 'Vereinfachung' und unserem Lehren erreichen, ist, dass wir das Lesen für Kinder hundertmal schwerer machen als es sein müsste... wir denken schlecht, und nehmen sogar schlecht oder überhaupt nicht wahr, wenn wir besorgt sind und Angst haben... wenn wir Kindern Angst machen, bringen wir das Lernen zum Stillstand."

In der Tat zeigen viele Forschungsberichte, dass die Erwartungen von Lehrern bezüglich der Lernfähigkeiten eines Kindes die akademischen Leistungen des Kindes in großem Maße beeinflussen. Andere Studien zeigen eine hohe Korrelation zwischen den Ängsten von Kindern und Störungen in der Wahrnehmung – und sie beweisen ferner, dass die Reduktion dieser Ängste (und die Behandlung von Nahrungsmittelallergien, falls vorhanden) das Auftreten solcher Schwierigkeiten stark verringern. Aber wir brauchen keine Wissenschaftler und Experten, um uns zu sagen, was falsch läuft. Wir brauchen nur den Kindern selbst zuhören, die seit Jahren versuchen, ihren Schmerz, ihre Frustration, ihre Verwirrung und ihre Wut mitzuteilen. Wenn Kinder zu süchtig machenden Drogen, Selbstverstümmelung und Selbstmord getrieben werden, versuchen sie offenkundig, etwas von lebenswichtiger Bedeutung mitzuteilen.

Sind Lernschwierigkeiten in Wirklichkeit die verständliche Antwort von normalen Kindern, die gezwungen werden, sich den anormalen Bedingungen in konventionellen Klassenzimmern anzupassen? Höchst aufschlussreich: haben die Schulen den entscheidenden Unterschied zwischen bloßen Beschreibungen von häufig auftretenden, vorübergehenden Fehlern beim Lernen, die durch Stress verschlimmert werden, und wissenschaftlichen Beweisen übersehen? Während die vermuteten neurologischen Anomalien nie genau ermittelt werden konnten, ist es nicht schwierig, die anormalen Bedingungen in der Lernumgebung der Schulen ausfindig zu machen: erbitterter Konkurrenzkampf; körperliche Inaktivität (besonders schwierig für Jungen); in Bruchstücke zerlegte Themen, die wenig Bezug zu den Interessen und Erfahrungen des Kindes haben; ständiges Testen – und Anzweifeln – des Lernfortschritts; zu wenig Familienzeit; seltene Gelegenheiten, Menschen anderer Altersgruppen zu treffen; Mangel an stiller Zeit zum Alleinsein und zum Nachdenken; ständiger abrupter Wechsel der Themengebiete (wodurch das in die Tiefe gehende Lernen verhindert wird); wenig Chancen auf die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lehrers; Lehrer unterbinden, dass Kinder Ergebnisse und Ideen mit den Klassenkameraden teilen (eine verpasste goldene Gelegenheit); Spott von anderen frustrierten Kindern; die Entmutigung durch selbsterfüllende Etiketten, und – vor allem – die Demütigung, eine machtlose "Un-Person" zu sein, dessen legitime Bedürfnisse und Versuche, diese Bedürfnisse mitzuteilen, von den Abwehrmaßnahmen der Institution erstickt werden. All diese Schwierigkeiten können im Leben ohne Schule vermieden werden – vorausgesetzt, der Staat gewährt ausreichende Autonomie.

Das Abstempeln mit Etiketten behindert, weil Kinder glauben, was wir ihnen sagen. Wenn wir etwas mit einem Etikett belegen, so sollte das die Lernumgebung sein, nicht der Lernende: statt mit einem "hyperaktiven Kind", sollten wir uns mit "aktivitätseinschränkenden" Schulen beschäftigen; statt uns Sorgen über Schüler mit "Aufmerksamkeitsdefizit" zu machen, sollten wir über "anregungsarme" Klassenräume nachdenken; statt von einem Kind mit "Schulphobie" zu sprechen, sollten wir solch ehrliche Worte wie "ängstlich" und "erschreckt" benutzen und bei der Suche nach dem Grund für diese Angst sehr sorgfältig vorgehen. Lassen Sie uns, Ockhams Rasiermesser anwendend, nach der einfachsten Theorie Ausschau halten, auf welche die Fakten hindeuten, nicht nach der verworrensten und kompliziertesten. Eine Umgebung vollgeladen mit Stress, Strafen und Drohungen ist eine mehr als ausreichende Erklärung für Lernschwierigkeiten. Es gibt keinen Grund, warum wir uns durch die Fachsimpelei der Schule, durch unbewiesene Theorien und durch die Suche nach Sündenböcken verwirren lassen sollten – das alles dient dem Schutz einer sozialen Institution, die unseren Kindern nicht gerecht wird.

Welche Alternative gibt es? Professor Norman Henchey von der McGill University [Universität in Montreal, Quebec, Kanada; Anm. der Übersetzerin] schlägt vor, dass wir "das gesamte Konzept der Schulpflicht überdenken"1 sollten. Henchey befürwortet die Rückkehr zum Leben ohne Schule und "andere Wege in das Erwachsenenleben... Lehrverhältnisse, formelle und informelle Lernangebote, öffentliche Angebote. Eine ganze Bandbreite von Dingen kann jungen Leute vorgestellt werden." Möglicherweise können wir dann den persönlichen Lernstil jedes Kindes anerkennen und, wie Armstrong mahnt, "Kindern den Zuspruch zu geben, den sie brauchen, um sich wie kompetente, erfolgreiche Menschen zu fühlen"2.

Kinder werden geboren, um zu lernen. Sie verdienen eine sichere, fördernde Lernumgebung, in der sie in einer Atmosphäre der Geduld, des Respekts, der Freundlichkeit und des Vertrauens lernen können, nicht in einer Atmosphäre, die von Drohungen, Zwang und Zynismus geprägt ist. Einstein warnte uns schon vor Jahren: "Es ist ein fataler Fehler zu glauben, dass die Freude am Sehen und Suchen durch Zwang gefördert werden kann."

Jedes Kind ist ein Kind mit einer außergewöhnlichen Begabung.
 

1 Interview in "Growing Without Schooling", Ausgabe 59 (1987), S. 29-30.
2 Armstrong, Thomas. In Their Own Way: Discovering and Encouraging your Child's Personal Learning Style. Los Angeles, CA: J.P. Tarcher, 1987.
 

© Copyright Jan Hunt
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia.
Original: www.naturalchild.org/jan_hunt/learning.html