Meine Gedanken über das Leben ohne Schule
von Linda Wyatt

Warum tue ich das?

Die schnelle Antwort lautet “Weil wir Spaß haben.” Wir sind zu beschäftigt damit, für uns selbst so viele Dinge zu lernen, um auch nur darüber nachzudenken, die Kinder für etliche Stunden ihres Tages woanders hinzuschicken, damit die dort stillsitzen und ruhig sind.

Ich bin nicht der Meinung, dass Schulen der beste Ort zum Lernen sind. Einige Schulen sind besser als andere, und manche Menschen glauben, dass sie keine Alternative haben, aber uns bietet unser Leben so viel mehr als es eine Schule je könnte, so dass es keinen Sinn macht, unsere Kinder zur Schule zu schicken.

Zunächst einmal glaube ich nicht, dass es eine gute Sache ist, Kinder in Räume voll mit Kindern gleichen Alters einzuteilen. Menschen lernen, indem sie einander beobachten, und wenn jeder, den sie beobachten können auf genau der gleichen Stufe steht wie sie – was werden sie dann lernen? Einige Schulen sorgen dafür, dass ältere Kinder mit jüngeren Kindern arbeiten, und ich finde das eine gute Idee – aber warum sollte das ein besonderes Ereignis sein?

Ich glaube, dass Menschen am besten lernen, oder vielleicht sogar nur dann lernen, wenn sie die Kontrolle darüber haben, was sie lernen, wann und wie sie es lernen, und was sie mit der Information machen. Ich weiß, dass ich in der Schule viele Dinge gelernt habe und sie lange genug behalten habe, um einen Test zu bestehen – aber heute habe ich alles vergessen. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Auswendiglernen und Lernen. Dinge, die man wirklich lernt, behält man. Denken Sie an Ihre Hobbys, wie viel sie darüber wissen. Hat Ihnen jemand vorgeschrieben, wie sie das lernen sollen? Mussten Sie einen Aufsatz schreiben, warum Sie dieses Hobby gewählt haben? Ist jemand zu Ihnen gekommen als Sie darin vertieft waren, Vögel zu beobachten oder was auch immer, und hat gesagt: "Es tut mir leid, Du musst zum Ende kommen und jetzt Mathe machen."? Oder waren Sie motiviert, weil es etwas ist, das Sie gerne tun?

Ich sehe keine Trennung zwischen Leben und Lernen. Leben ist Lernen. Babys werden mit einem unersättlichem Drang zu lernen geboren. Niemand muss ihnen beibringen, wie man läuft oder spricht, beides sehr komplizierte Vorgänge. Sie lernen, weil sie es wollen und weil es notwendig ist. Menschen können auf die gleiche Weise alles lernen, was sie wollen. Sie brauchen niemanden, der hereinkommt und ihnen Sachen beibringt, obwohl manche hin und wieder diese Methode wählen mögen. Es gibt keinen besonderen Ort, an dem Lernen stattfindet, es spielt sich überall ab. Es ist die innere Motivation, etwas zu lernen, die die Suche nach und die Aneignung von Wissen antreibt, nicht jemand oder etwas Externes.

Das Beste am Leben ohne Schule ist, dass es nicht nur etwas für die Kinder ist. Es betrifft die ganze Familie. Wir lernen alle die ganze Zeit über, von uns selbst, voneinander und von der Welt. Möglicherweise sogar von Ihnen.

Was genau machen wir den ganzen Tag?

Es gibt kein "genau". Jeder Tag ist anders. Wir haben keinen festen Zeitplan, keinen Lehrplan, keine Stundenpläne, keinen Unterricht, Tests oder etwas anderes, dass den Schwerpunkt auf Lehren setzt, oder auf einen Erwachsenen, der eine Lerngelegenheit anbietet. Meistens, ohne Grund, tun wir, was wir wollen.

Vielen Leute haben ein Problem mit der Vorstellung, dass man "tut, was man will". Warum eigentlich? Weil sie denken, dass Menschen, die sich selbst überlassen werden, unaussprechlich furchtbare Dinge tun würden? Dass sie außer Kontrolle geraten und sich destruktiv verhalten würden? Dass Kinder immer nur Süßigkeiten essen und fernsehen würden, und sich weigerten, irgendetwas zu tun, das nach "Arbeit" aussieht? Oder ist es hauptsächlich Neid - "Ich hatte nie die Gelegenheit, zu tun, was ich wollte, also sollte das auch niemand anders tun dürfen." Das scheint in meinen Augen die traurige Sicht der Welt zu sein.

Bei uns bedeutet "tun, was wir wollen" meistens, am Computer zu sitzen oder zu lesen, nach draußen zu gehen, auf Bäume zu klettern, im Garten zu arbeiten, an Freunde zu schreiben, gemeinsam Spiele zu spielen, Geschichten zu erzählen, Dinge zu bauen (entweder mit Bauklötzen oder mit Lego oder Gegenstände wie Regale), Sachen zu reparieren, zu malen, im Internet zu surfen, fernzusehen, Puppentheater zu inszenieren, in endlosen Variationen mit Papier zu arbeiten und zu sprechen, über alles zu sprechen, was wir tun und sehen und lernen.

"Und was ist mit Mathe?" denken Sie vielleicht. Oder möglicherweise haben Sie Bedenken bei Geschichte oder Grammatik oder Fremdsprachen oder was auch immer Sie für wichtig halten, und meinen, es bliebe "außen vor". Die Welt, wie ich sie sehe, ist voller Mathematik. Sie ist voll von allem. Bei allem, was wir tun, benutzen wir Informationen aus einer breiten Palette von Quellen. "Fächer" werden nur in der Schule getrennt, nicht in der wirklichen Welt. Alles führt zu allem anderen, und es gibt kein Ende des Lernens.
 

Einige Bemerkungen über häufig geäußerte Bedenken

Was ist mit der Sozialisation?

Ein weit verbreiteter Irrtum über das Leben ohne Schule ist, dass es zu Hause stattfindet und dass die Kinder isoliert aufwachsen. Kinder, die keine Schule besuchen, lernen überall und sind fähig, den Umgang mit Leute zu pflegen, die nicht genau ihrer Altersgruppe angehören. Sie kommen tendenziell besser damit zurecht, persönliche Beziehungen zu Menschen aller Altersgruppen aufzubauen als Kinder, die zur Schule gehen.

Den Großteil der Sozialisation – wenn Sie damit meinen, dass man lernt, wie man sich angemessen verhält – lernen Kinder von Erwachsenen, nicht von anderen Kindern. Denken Sie an den Roman "Herr der Fliegen". Ich würde es nicht gerne sehen, dass meine Kinder Verhalten durch Gruppenzwang lernen.

Vergessen Sie nicht, dass Sozialisation auch innerhalb der Familie passiert. Erst seit relativ kurzer Zeit knüpfen Menschen mehr Kontakte außerhalb der Familie als innerhalb.

Ich könnte das nie tun, all diese Unterrichtsvorbereitung und alles. Das ist viel zu viel Stress. 

In unserer Familie benutzen wir keine Lehrpläne. Wir haben keine "Schulzeit", die von allem anderen getrennt ist. Wir haben keinen Unterricht, keine Schulaufgaben, Tests oder Noten. Was wir tun, basiert nicht auf dem Modell der Schule, wo Erwachsene Kinder unterrichten oder Kinder Empfänger von Unterricht sind. Was wir tun, wird manchmal als "unschooling" bezeichnet. Ich finde es nicht stressig, was das Lernen angeht.

Was ist "unschooling"?

"Unschooling" wird landläufig verwendet, um "homeschooling" zu bezeichnen, das nicht wie Schule ist. Einige Leute nennen es "kindgesteuertes Lernen" oder "interessengesteuertes Lernen" oder "natürliches Lernen". Für unser Leben bedeutet es, dass wir unser Leben ohne Trennung zwischen den Zeiten leben, wann wir lernen und wann nicht. Wir tun die Dinge, für die wir uns interessieren und wir lernen davon. Wir haben jeder unsere eigenen Interessen und Lernstile und Zeitpläne, und wir lernen, flexibel zu sein und miteinander zu leben. Oft merken wir, dass sich einige Interessen überlappen, und wir machen etwas zusammen, ein anderes Mal setzt sich jemand ab, um alleine an etwas zu arbeiten. Ich "unterrichte" die Kinder nicht, es sei denn, sie bitten um Information. Meine Aufgabe ist die eines Vermittlers – ich finde Materialien und Bedarf für den Haushalt. Das beinhaltet auch Dinge, die manche "pädagogisch wertvoll" nennen würden, weil viele von unseren Lieblingsbeschäftigungen anderswo "unterrichtet" werden. Der Hauptunterschied zwischen dem, was wir tun, und dem, was Schulen tun, ist, dass hier die Beteiligten entscheiden, was sie tun wollen und was nicht.

Wenn alle machen, "was sie wollen", wie lernen Ihre Kinder dann Dinge, die sie nicht machen wollen? Jeder muss irgendwann Dinge tun, die er nicht tun möchte. Was ist mit Fristen? Oder Selbstdisziplin lernen?

Zunächst einmal wird Selbstdisziplin per Definition von innen heraus gelernt, nicht von außen auferlegt. Man erlernt sie größtenteils anhand von Vorbildern – indem man Menschen beobachtet, die älter sind als man selbst, um zu erfahren, wie sie mit Dingen umgehen, und diese Informationen dann internalisiert. Sie resultiert auch aus einem starken Empfinden des Selbst, aus dem Gefühl richtig und gut und wertvoll zu sein.

Menschen lernen, mit Fristen umzugehen, wenn sie Fristen haben. Fristen, die man sich selbst setzt, sind genauso real wie Fristen, die ein Vorgesetzter bestimmt. Einige Fristen lauten "Ich muss dieses Computer-Projekt in einer Stunde fertig stellen, weil dann mein Bruder an die Reihe kommt." Andere können so aussehen: "Ich muss diesen Tisch aufräumen, bevor das Abendessen fertig ist." Wenn es einen Grund für die Frist gibt, wird auch der Wunsch da sein, diese Frist einzuhalten.

Dasselbe gilt für Dinge, die man tun muss, obwohl man sie "nicht tun möchte". Oft ist das Ziel wichtiger als die spezielle Tätigkeit, und der Wunsch, das Ziel zu erreichen, bezwingt den Mangel an Motivation für die unmittelbar anstehende Tätigkeit. Beispielsweise spüle ich nicht gerne. Wenn das Geschirr schmutzig ist, habe ich keine Lust, es zu spülen. Das Geschirr muss aber gespült werden, wenn ich von sauberen Tellern essen möchte. Also tue ich es, obwohl ich "es nicht tun möchte". Ein anderes Beispiel ist, wenn jemand einen Job hat, den er nicht mag. Wenn der Wunsch nach dem Gehalt größer ist als die Abneigung gegen den Job, behält er ihn. Man hat immer die Wahl, niemand muss etwas tun – aber einige Optionen sind zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz klar erstrebenswerter als andere.

Dies hängt auf vielfältige Weise damit zusammen, wie Kinder lernen, etwas zu tun, das sie nicht tun wollen. Sie beobachten, wie Erwachsene Dinge tun, die ihnen keinen Spaß machen, um ein Ziel zu erreichen. Sie lernen, zwischen dem direkten und dem langfristigen Ziel zu unterscheiden. Es gibt viele Dinge im Leben, die uns aus sich heraus Grenzen setzen (wenn ich mein Bett nicht aufräume, muss ich in einem zerwühlten ungemütlichen Platz schlafen, bis ich es tue).

Warum schicken Sie sie nicht einfach auf eine gute Schule?

Ohne zu weit auf die Probleme in den Schulen einzugehen, kann ich sagen, dass es viele Dinge im Konzept der Schule gibt, mit denen ich nicht einverstanden bin. Ich bin nicht der Ansicht, dass die Einteilung in Gruppen von Gleichaltrigen gut ist. Ich bin nicht einverstanden mit all der Fleißarbeit, die für das Management im Klassenzimmer notwendig ist. Ich glaube nicht an eine Bildung, die auf den "gemeinsamen Nenner" zugeschnitten ist, anstatt auf das Individuum. Ich glaube nicht, dass eine Umgebung, in der der Einzelne weder das Thema bestimmen kann, noch die damit zugebrachte Zeit oder die Methode zur Erforschung dieses Themas, und schon gar nicht, ob er überhaupt dort sein möchten, die beste Art zu lernen für irgendjemanden ist.

Wir lernen am besten, wenn wir interessiert und motiviert sind und die Kontrolle haben. Wir behalten viel mehr Information über ein Thema, für das wir uns brennend interessieren, als uns je irgendjemand über ein anderes Thema beibringen könnte. Denken Sie an Ihre Hobbys – wie haben Sie etwas darüber gelernt? Freiwillig? Auf Ihre eigene Art und nach Ihren eigenen Zeitvorstellungen?

Ich glaube auch, dass es wichtig ist, Kooperation, Teamwork, kreative Problemlösung und für das Allgemeinwohl arbeiten zu lernen. Schulen nennen diese Dinge häufig "mogeln" und fördern den Konkurrenzkampf, nicht die Zusammenarbeit. Ja, einige Schule versuchen, auch diese Dinge zu lehren – aber nur in bestimmten Situationen.

Wie lernen Ihre Kinder Dinge, die Sie selbst nicht wissen?

Es gibt viele Wege für die Kinder, etwas über Dinge zu lernen, über die ich nichts weiß. Sie tun das jeden Tag! Sie überraschen mich ständig mit dem, was sie wissen. Beispielsweise weiß mein neunjähriger Sohn, wie man Web-Seiten erstellt, ohne seine Hilfe hätte ich viel mehr Zeit damit verbringen müssen, es selbst herauszufinden. Wir leben nicht als Einzelgänger. Wir lernen alle voneinander, und wir lernen ebenso alle unabhängig voneinander. Meine Kinder lernen aus Büchern, vom Fernsehen, von ihren eigenen Erfahrungen und Gedanken, von anderen Menschen um sie herum, und von allem, mit dem sie in der Welt in Kontakt kommen. Wenn sie ein Interesse haben, das ich nicht teile (und das haben sie!), verfolgen sie es auf eigene Faust. Wenn ihnen die Quellen ausgehen, bevor ihr Interesse erlischt, bitten sie mich vielleicht um Hilfe, um mehr zu finden. Oder sie fragen jemand anderen.

Woher wissen Sie, ob sie wirklich etwas lernen?

Das ist einfach – sie sagen es mir. Wir sprechen über viele Dinge, sie erzählen mir, wofür sie sich interessieren, ich lasse sie Anteil haben an dem, was ich tue, und wir haben alle eine ungefähre Vorstellung davon, was die anderen wissen. Ich weiß, welches Kind ich beim Erstellen meiner Web-Seiten um Hilfe bitten muss, sie wissen, welches Familienmitglied sie fragen müssen, wenn sie etwas brauchen. Es gibt hier keine 30 Leute, über die man den Überblick behalten muss. Wir sind nur 5. Gespräche führen uns sehr weit.

Was ist, wenn sie zur Schule gehen wollen – oder auf die Universität?

Wenn die Zeit kommt, traue ich ihnen zu, dass sie fähig sein werden, alle zur Verfügung stehenden Alternativen abzuschätzen und für sich selbst die richtige Wahl zu treffen. Ich erwarte nicht, dass meine Kinder jemals zur Schule gehen wollen, aber es ist möglich, dass sie irgendwann einmal ein Interesse haben werden, das sie gerne auf der Universität weiterverfolgen wollen, oder sie wollen einen Job, der einen bestimmten Abschluss voraussetzt. Wenn das passiert, können sie von der Hochschule, die sie besuchen möchten, ausfindig machen, welche Voraussetzungen es gibt und diese dann erfüllen. Es gibt Einstufungstests und Aufnahmeprüfungen. Viele Hochschulen zeigen sich zunehmend interessiert an der Aufnahme von Kinder, die keine Schule besucht haben, weil diese häufig sehr motiviert sind.

Meine Kinder leben in einem Zuhause mit Erwachsenen, die relativ glückliche, produktive Menschen sind und nicht mehr als einen zweijährigen Hochschulabschluss haben. Das meiste von dem, was wir tun und was wir wissen, haben wir auf eigene Initiative gelernt, nicht in der Schule. Manchmal zählt, was man weiß, und nicht, welche Stücke Papier man besitzt.
 

© Copyright Linda Wyatt
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original-Artikel: www.lightlink.com/hilinda/philosophy.shtml