Strafe für Verzicht auf Gewalt?

Können Eltern in der Bundesrepublik Deutschland dafür bestraft werden, dass sie die Gesetze ernst nehmen und die Anwendung von Gewalt gegenüber ihren Kindern ablehnen?

Matthias Kern

Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten einen Sohn oder eine Tochter. Dieser junge Mensch geht in die Schule. In der Schule und auf dem Weg dorthin wird er immer wieder geschlagen, getreten, verspottet, lächerlich gemacht, sein Eigentum wird weggenommen, beschädigt oder zerstört. Außerdem leidet er unter der Ungerechtigkeit und dem Sarkasmus einzelner Lehrer. Darüber hinaus interessiert ihn das, was in der Schule gerade "dran" ist, in keiner Weise; er möchte lieber eigene Gedichte schreiben, englische Briefe mit seiner israelischen Freundin wechseln, Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus lesen, einen Schlitten bauen, Schlagzeug spielen und vieles anderes mehr.

Stellen Sie sich weiter vor, dieser junge Mensch erklärte Ihnen eines Tages, er sei nicht bereit, weiterhin zur Schule gehen. Wie reagieren Sie als Vater oder Mutter in Deutschland? Sorgen Sie dafür – wie es das Schulgesetz Ihres Bundeslandes von Ihnen als Elternteil fordert –, dass ihr Kind die Schule besucht, egal welche Mittel sie dafür einsetzen müssen? Oder berücksichtigen Sie die Entscheidung Ihres Kindes?

In der Zwickmühle

Wir befanden uns im Oktober 2001 in der beschriebenen Situation. Zwei unserer Söhne lehnten den weiteren Schulbesuch kategorisch ab; unsere beiden Töchter und unser dritter Sohn besuchten dagegen weiter die Schule. Wir steckten also in einem Dilemma: Einerseits waren wir nach dem Landes-Schulgesetz verpflichtet, für den Schulbesuch unserer Söhne zu sorgen. Andererseits wussten wir auf Grund der bisherigen Erfahrungen, dass es ihnen dort nicht gut gehen würde. Vorangegangene Schulwechsel, Gespräche mit Mitschülern, Eltern, Lehrern und auch schulpsychologische Beratungen hatten keine Abhilfe gebracht. Wir empfanden es als ethisch nicht vertretbar und mit unserem Gewissen nicht vereinbar, unsere Söhne in dieser Situation zum Schulbesuch zu zwingen.
Wir suchten zunächst nach weiteren Informationen: Regelungen der verschiedenen Bundesländer, der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union, anderer europäischer und außereuropäischer Staaten sowie der Vereinten Nationen zu den Bereichen Schulpflicht, privates Schulwesen, Rechte und Pflichten von Eltern und Kindern, elterliche Sorge usw.; Entscheidungen deutscher Gerichte zu diesem Thema in den vergangenen Jahrzehnten; Grundlagen und historische Entwicklung der Schulpflicht in Deutschland; Ergebnisse der Bildungsforschung; ...

Bundesrecht bricht Landesrecht?

Allmählich wurde uns immer deutlicher klar: In dieser Situation waren neben dem Paragraphen des Landes-Schulgesetzes, der uns verpflichtet, für den Schulbesuch unserer Kinder zu sorgen, noch weitere Regelungen zu berücksichtigen:
Uns wurde bewusst, dass schon die Schulpflicht an sich die Grundrechte der jungen Menschen massiv einschränkt: "Auch wenn dies im einschlägigen Schrifttum nur selten ausdrücklich erwähnt wird, stellt die Verpflichtung zum regelmäßigen Besuch des Unterrichts und zur Vor- und Nachbereitung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen einen schwerwiegenden Eingriff in ihre Grundrechte dar, der einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Tatsächlich gibt es mit Ausnahme des Strafvollzugs wohl keinen anderen Bereich, in dem der Staat vergleichbar intensiv und ähnlich lange in das Selbstbestimmungsrecht der Bürger eingreift." (Dr. jur. Johannes Rux, "Die Schulpflicht und der Bildungs- und Erziehungsanspruch des Staates" in RdJB 2002, S. 423-434).

Von einigen Juristen wird ein solch schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte als verfassungswidrig abgelehnt: "Die überkommene Praxis staatlichen Schulehaltens widerspricht dem Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit, weil das öffentliche Interesse an geregelter individueller Kindererziehung auch auf andere, die betroffenen Grundrechtsträger weniger belastende Weise erfüllt werden kann." (Erich Bärmeier, "Das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit und die Unverhältnismäßigkeit staatlichen Schulehaltens" in RdJB 1993 S. 80-91; S. 89).

Wir erkannten, dass verschiedene Grundrechte unserer Söhne im Rahmen des Schulbesuchs verletzt worden waren und wir auch künftig mit solchen Verletzungen rechnen müssten. Wir waren uns sicher, dass ein weiterhin erzwungener Schulbesuch nicht zum Wohl unserer Söhne sein würde. Solch ein Zwang entsprach keinesfalls dem, was wir unter gewaltfreier Erziehung verstehen. Wir konnten es weder aus ethischer Sicht noch bei juristischer Betrachtung vertreten, unsere Söhne weiterhin zum Schulbesuch zu zwingen. Daher kamen wir zu dem Schluss, die Entscheidung unserer Söhne, sich selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu bilden, zu respektieren.

Gesetzliche Praxis

Das Studium bisheriger Entscheidungen zeigt: Wenn es um die Verletzung der Schulpflicht ging, wurde die Schulpflicht in der letzten Instanz für rechtens erklärt. Allerdings betrafen die meisten Entscheidungen gar nicht die Rechte der betroffenen Schüler selbst; in der Regel wurde die Frage diskutiert, ob denn nun der Staat über die Kinder zu bestimmen habe oder ob dies Sache der Eltern sei.

Eine einzige Ausnahme gibt es von 1949 bis heute, wo der in der ersten Instanz erfolgte Freispruch der Eltern nicht angefochten und aufgehoben wurde. Die Eltern hatten sich geweigert ihren Sohn – nach dessen schlechten Schulerfahrungen – gegen seinen erklärten Willen zum Schulbesuch zu zwingen. Der Richter begründete sein Urteil damit, dass von den Eltern nicht verlangt werden könne, Druck auf das Kind zur Erzielung des Besuchs der Schule auszuüben, wenn sie die seelisch-körperliche Gesundheit ihres Kindes durch den Schulbesuch gefährdet sähen. (7.9.1989, AG Wolfratshausen – 2 OWi 46 Js 32069/88).
Für unsere Familie kam es wie es in Deutschland entsprechend der bisherigen Rechtsprechung wohl kommen musste: Wir erhielten Bußgeldbescheide mit dem Vorwurf, wir hätten nicht ausreichend für den Schulbesuch unserer Söhne gesorgt.

Wir legten Einspruch ein und wurden infolgedessen zum Amtsgericht Überlingen vorgeladen: Dort wurde im Namen des Volkes folgendes für Recht erkannt: Die beiden Betroffenen sind schuldig eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die Pflicht, für den regelmäßigen Schulbesuch ihrer Kinder zu sorgen. Gegen die beiden Betroffenen wird daher jeweils eine Geldbuße von 200 Euro festgesetzt. (AG Überlingen - 3 OWi 45 Js 2093/03) Auf die Frage, wie wir den Schulbesuch unserer Söhne denn ohne Verletzung höherwertiger Rechte hätten erreichen können, erhielten wir in der schriftlichen Urteilsbegründung keinerlei Hinweis. Mündlich verkündete der Richter, wir hätten unsere Söhne "mit Nachdruck" und "unter Einsatz körperlicher Kraft" zum Schulbesuch bewegen müssen. Es ist uns heute noch nicht klar, wie diese Forderungen des Richters mit dem seit dem Jahr 2000 festgeschriebenen Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung vereinbar sein könnten.

Unser Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wurde vom Oberlandesgericht Karlsruhe abgelehnt: "Die Rechtsbeschwerden werfen keine Rechtsfragen auf, die im Interesse einer Fortbildung des Rechts klärungsbedürftig sind." (OLG Karlsruhe – 3 Ss 6/04) Aus unserer Sicht besteht nach wie vor dringend Klärungsbedarf!

Unsere beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Beschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen: "Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu. (…) Das Beschwerdevorbringen lässt nicht die Feststellung zu, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen die in der Beschwerdeschrift geltend gemachten Grundrechte der Beschwerdeführer oder ihr grundrechtsgleiches Recht auf rechtliches Gehör verstoßen. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BverfGG)" (BVerfG – 1 BvR 1686/04) Dass bisher sämtliche Beschwerden in Sachen Schulverweigerung spätestens an dieser Stelle gescheitert waren, war uns bekannt. Aber mindestens eine weitere Begründung zur Ablehnung hatten wir schon erhofft …

Es stellt sich also folgendes Ergebnis heraus: Wir hatten neben dem Landesgesetz auch das Grundgesetz und weitere Bundesgesetze gelesen, sie nach ihrer Wertigkeit eingestuft und dementsprechend gehandelt. Nun werden wir für diese rechtlich korrekte Handlungsweise wegen Verletzung des Landesgesetzes bestraft. Die mögliche Verletzung von höherwertigen Rechten wird von den Gerichten entweder bestritten oder ignoriert. Eine weitere Überprüfung der Entscheidungen in dieser Sache ist innerhalb des deutschen Rechtssystems nicht mehr möglich.
 
Ein Blick ins Ausland

In vielen Ländern, die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eingeschlossen, wäre es ausreichend, den Schulbehörden in einem Fall wie unserem mitzuteilen, dass die Bildung der Kinder außerhalb der Schule stattfindet; teilweise ist dann eine regelmäßige Überprüfung vorgesehen. In anderen Ländern wie z.B. Dänemark wäre es problemlos möglich, eine kleine private Schule zu gründen, in der Bildung entsprechend den Vorstellungen der Eltern stattfindet. In Deutschland werden dagegen nur dann (Ersatz-)Schulen für Schulpflichtige genehmigt, wenn es gleichartige öffentliche Schulen gibt.

Für die Bundesrepublik Deutschland scheint es ganz besonders wichtig zu sein, die Bildung und Erziehung Heranwachsender als Veranstaltung des Staates durchzusetzen. Abgesehen von totalitären Systemen ist ihr dies wichtiger als allen anderen Staaten. Dies gilt nicht nur in Situationen, in denen die jungen Menschen selbst eine andere Art der Bildung gewählt haben, sondern auch in den Fällen, in denen die Eltern mit der staatlichen Bildung und Erziehung nicht einverstanden sind.

Auch wenn der Staat ein berechtigtes Interesse daran hat, dass keine Parallelgesellschaften entstehen und dass die jungen Menschen verschiedene Weltanschauungen kennen lernen, erscheint sein Vorgehen doch als unverhältnismäßig. Ich bezweifle sehr, dass es dem Wohl der Kinder dient, wenn beispielsweise – wie kürzlich im Fall der Lebensgemeinschaft "Zwölf Stämme" in Bayern geschehen – im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Schulpflicht Kinder ihren Eltern entrissen werden (obwohl sich die Kinder schreiend dagegen wehrten) und die Eltern ins Gefängnis gebracht werden. Und nach den Rechten und Willensentscheidungen der Kinder scheint ohnehin niemand gefragt zu haben.

Nach den Erfahrungen der Geschichte ist verständlich, dass der Bundesrepublik Deutschland daran gelegen ist, die Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Systems zu schaffen und zu erhalten. Ob hierzu die Schulpflicht und die Praxis von Schule mit ihrer keineswegs demokratischen inneren Struktur – notwendig oder überhaupt geeignet ist, wird von manchen bezweifelt: "Nach Smend unterscheidet sich der 'Sinngehalt' der Demokratie von dem des Obrigkeitsstaates dadurch, dass er von einer möglichst ausgedehnten Aktivbürgerschaft getragen und als eigener Besitz erlebt und fortgebildet wird. Das Drückende des 'Obrigkeitsstaats' wird nicht so sehr darin gefunden, dass er sachlich unrecht hätte, als darin, dass er im Namen von Sinnzusammen­hängen und politischen Wertewelten schaltet, die die Regierten nicht mehr als ihre eigenen, von ihnen hervorgebrachten oder aktiv gebildeten empfinden. Diese Empfindung der Fremdbestim­mung des Untertanen durch die Obrigkeit vermittelt die Schule in ihrer überkommenen Form auch heute noch als erstes Erlebnis gesellschaftlicher Realität (...) Die überkommene Form der staatlichen 'Anstalt' ist dagegen wenig geeignet, die Sozialisation der Jugendlichen im Sinne der 'freiheitlich-demokratischen Grundordnung' zu gewährleisten." (E. Bärmeier, a.a.O.)

Der Weg zum Europäischen Gerichtshof

Zurück zu der Situation unserer Familie. Nach Ablehnung unserer Beschwerde durch das Bundesverfassungsgericht ist unser Bußgeldverfahren innerhalb des deutschen Rechtssystems abgeschlossen. Doch wir sehen nach wie vor weder in ethischer noch in rechtlicher Hinsicht einen Weg, einen Schulbesuch unserer Söhne zu erreichen, ohne zugleich die Rechte unserer Söhne zu verletzen und ohne entgegen unserem Gewissen zu handeln. Wir möchten unser Anliegen jetzt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vortragen und die bisherigen Verurteilungen und Ablehnungen dort überprüfen lassen.
Es würde uns sehr freuen, wenn die durch eine solche Verhandlung hoffentlich angeregte Debatte zu einer Demokratisierung der deutschen Bildungslandschaft führen würde.
 

© Matthias Kern


Dies ist eine überarbeitete Fassung eines in der Zeitschrift KursKontakte, Nr. 136, erschienenen Artikels.