Ist Ihr Kind selbstsicher?
von Naomi Aldort

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Frage: Mein Sohn ist schüchtern. Er antwortet nicht auf Fragen und schaut weg. Seine Schwester ist das genaue Gegenteil; letzte Woche hat sie zu einem Erwachsenen im Park gesagt: "Stehen Sie auf, das ist mein Platz, ich bin nur für einen Moment weggegangen." Der Mann nannte sie "unverschämt" und weigerte sich aufzustehen. Ich bin immer voll auf die Bedürfnisse meiner Kinder eingegangen. Warum ist mein Sohn so unsicher und meine selbstsichere Tochter so energisch?

Antwort: Das Konzept des Selbstvertrauens wird oft missverstanden. Es wird verwechselt mit Eigenschaften wie kontaktfreudig, laut, eingebildet, arrogant oder dominant zu sein. Diese Eigenschaften gehen jedoch nicht notwendigerweise mit einem hohen Selbstvertrauen einher und sind häufig eine Fassade, hinter der sich Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle verbergen. Hinzu kommt, dass die Reaktion vieler Erwachsenen auf die Selbstsicherheit von Kindern die Situation noch verworrener machen; sie untergraben die selbstsichere Entscheidung des Kindes für Zurückgezogenheit mit "sei nicht schüchtern" und manchmal missbilligen Sie das bestimmte und offene Verhalten eines Kindes.

Das Selbstvertrauen Ihres Sohnes ist vielleicht so groß, dass er kein Interesse daran hat, andere zu beeindrucken oder ihre Erwartungen zu erfüllen. Respektieren Sie seine Wünsche und sein Selbstvertrauen wird wachsen. Genauso können Sie Ihre Freude haben an der Leichtigkeit, mit der sich Ihre Tochter behauptet; sie hat einen klaren Gerechtigkeitssinn und ihr ist bewusst, dass sie den Respekt anderer verdient. Nach mehreren Jahren Erfahrung und Auseinandersetzung mit anderen wird sie lernen, wann sie nachgeben und die Entscheidung eines anderen akzeptieren sollte.

Selbstvertrauen ist kein spezieller Charakterzug. Vielmehr ist Selbstvertrauen das Gefühl, dass man zufrieden ist damit, wer man ist, und dass man das Beste verdient. Wir erkennen Selbstvertrauen leicht, wenn ein Kind ein Anführer ist, extrovertiert und gesellig, aber wir vergessen, dass ebenso viel Mut und Selbstsicherheit nötig ist, um das Bedürfnis nach Ruhe, Zurückhaltung oder Einsamkeit durchzusetzen. In der Tat mangelt es nicht jedem Introvertierten an Selbstvertrauen und nicht jeder Extrovertierte fühlt sich des Respekts anderer würdig.

Ein typisches Beispiel ist das Kind, das sich nicht gerne unter Gruppen von Kindern mischt. Ein solches Kind zieht eine oder zwei enge Freundschaften vor; die Weigerung an einem Gruppenspiel teilzunehmen ist Ausdruck seiner Selbstsicherheit. Es verhält sich seinen Gefühlen entsprechend und lässt sich nicht durch die Erwartungen anderer an sie einschüchtern.

Ich erinnere mich an eine Situation mit einem meiner Kinder in einer Spielgruppe als er fünf war. Sechs Kinder waren gemeinsam mit ihren Eltern mit einem organisierten Spiel beschäftigt. Er saß am Rande und beobachtete sie. Ich saß bei ihm in der Erwartung entweder die ganze Zeit über dort zu sitzen oder zu gehen, sollte er den Wunsch äußern. Die Organisatorin der Veranstaltung hatte das Bedürfnis meinen Sohn mit in das Spiel einzubeziehen. Sie kam mehrmals zu uns herüber und versuchte ihn zum Mitmachen zu überreden. Jedes Mal blickte er ihr direkt in die Augen und deutete mit dem Kopf ein "Nein" an. Ein anderes Mal bat er zu einem Töpferkurs gehen zu dürfen, als wir aber dort waren, wollte er nicht mit den anderen Kindern an dem runden Tisch sitzen und entschied sich dafür nach Hause zu gehen. Man braucht eine gehörige Portion Selbstvertrauen sich unter einem solchen Druck selbst treu zu bleiben. Gleichermaßen kann das Verhalten, das nach hohem Selbstvertrauen aussieht, auch ein Trugschluss sein; manchmal dient ein "Ich, ich"-Verhalten dazu, eine tief sitzende Unsicherheit zu verschleiern.

Beispielsweise erzählte mir eine Mutter von ihrer Tochter Iris (alle Namen und Umstände in den Beispielen wurden verändert), die immer schrie: "Erst ich." In ihrem Bodenakrobatik-Kurs versuchte sie immer als erste in der Reihe zu stehen. Sie schien sehr glücklich zu sein, wenn sie als erste drankam, war aber schnell gekränkt, wenn es ihr nicht gelang. Als sie eines Tages vom Bodenakrobatik-Kurs kam, schein Iris sehr gereizt zu sein. Auf die Frage ihrer Mutter, wie der Kurs gewesen war, antwortete Iris: "Es hat mir heute nicht gefallen. Nancy hat mich nie erste sein lassen. Ich hasse sie." Später saß die Mutter mit Andrea, Iris’ jüngerer Schwester, am Klavier. Iris ging vorbei und sagte im Vorübergehen: "Hach, kleines Genie Andrea, unsere Königin."

Was in dieser Situation nach Selbstsicherheit und Überschwänglichkeit aussieht, ist aller Wahrscheinlichkeit nach Iris’ Verzweiflung und Unsicherheit. Sie sieht sich selbst zu Hause als minderwertig, und in ihrem großen Schmerz versucht sie ihre Selbstzweifel zu verleugnen indem sie sich an anderer Stelle Anerkennung verschafft. Natürlich gibt es auch Kinder, die ihr geringes Selbstvertrauen dadurch ausdrücken, dass sie übermäßig ängstlich sind. Wenn ein Kind seine Unsicherheit jedoch unter dem Deckmantel des Angebens versteckt, erkennen wir sie eventuell nicht. Anstatt nach den üblichen Anzeichen von Selbstvertrauen bei Ihrem Kind Ausschau zu halten, sollten Sie sich also fragen, ob es sich selber treu ist und ob es sich wie jemand verhält, der zufrieden mit sich selbst ist und dem beste Behandlung, Respekt und Liebe gebührt; beobachten Sie, ob es mit Begeisterung es selbst ist und ob es sich frei fühlt, mal gesellig zu sein und mal ruhigere Momente zu haben.

Oft zeigt sich das Selbstvertrauen in unserem täglichen Umgang mit unseren Kindern. In einer Telefonberatung erfuhr ich von einem Jungen, der eine hohe Meinung von sich selbst hatte. Rio spielte draußen mit dem Wasserschlauch. Sein Vater begann sich Gedanken über den Wasserverbrauch zu machen und rief Rio von drinnen zu: "Bitte stelle das Wasser ab, sonst könnte der Brunnen austrocknen." Da er seinen Vater nicht gehört hatte, spielte Rio weiter, woraufhin sein Vater wütend wurde. Er ging zum Fenster und brüllte: "Stell das Wasser sofort ab!" Geschockt drehte Rio schnell den Hahn zu und rannte ins Haus. Als er seinem Vater gegenüber stand, hatte er Tränen in den Augen: "Wenn ich Dich anschreien würde 'Geh sofort die Tür von Deinem Auto zumachen!' – wie würdest Du Dich fühlen?", fragte er. "Ich wäre verletzt.", sagte sein Vater und entschuldigte sich, dass er laut geworden war.

Manche mögen geschockt sein zu hören, wie dieser Junge mit seinem Vater spricht. Doch Rios Worte drückten aus, dass er sich des Respekts und besten Umgangs würdig fühlt. Der Gedanke hinter seinen Worten war vermutlich etwa: "Wie kannst du mich so behandeln? Ich verdiene Respekt und Freundlichkeit, genau wie Du." Kinder, die sich sicher genug fühlen, zu Hause alles auszusprechen, entwickeln ein unfehlbares Gefühl für ihren eigenen Wert.

Das Paradoxe ist, dass wir uns häufig über ein unsicheres Kind keine Gedanken machen, während wir besorgt sind, dass mit dem selbstsicheren Kind etwas nicht stimmt. Wir wollen, dass ein Kind bestimmt und sicher auftritt, aber wenn es dies tut, reagieren wir verärgert und wollen seinen Elan dämpfen. Ebenso stößt ein Kind, das sein Recht auf Zurückgezogenheit verteidigt, oft auf Erwachsene, die seine Selbstsicherheit nicht anerkennen und verlangen, dass es auf ihre bohrenden Fragen antworten.

Beschützen Sie die Authentizität und Würde Ihres Kindes und begrüßen Sie es, wenn Ihr Sohn für sein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit eintritt und Ihre Tochter für ihren Gerechtigkeitssinn.


© Copyright Naomi Aldort

Ursprünglich veröffentlicht in "Life Learning : the International Magazine of Self-Directed Learning", Mai/Juni 2004, ISSN 1499-7533, S. 23-24.

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia.
 

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