Kindheit ist Jetzt
von Pam Leo

"Lasst uns unseren Verstand zusammentun und schauen,
welche Art von Leben wir unseren Kindern bieten können."
(Häuptling Sitting Bull)

Ich höre oft Leute sagen: "Die Kinder von heute sind anders, ich hätte mich als Kind nie so betragen." Sind Kinder heutzutage anders oder ist es das Leben der Kinder von heute, das anders ist? In ihrem Buch "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" weist Jean Liedloff darauf hin, dass „natürliche Logik ausschließt, dass wir an eine Evolution glauben, die eine Spezies dahinbringt, seine Eltern millionenfach in den Wahnsinn zu treiben." Als frischgebackene Eltern rät man uns: "Genieße Deine Kinder solange sie klein sind." Aber wie viel Zeit verbringen wir tatsächlich jeden Tag damit, unsere Kinder zu genießen? Viele Eltern verbringen den größeren Teil des Tages damit, mit ihren Kindern zu ringen, statt sie zu genießen. Wie ist es dazu gekommen? Was macht die Erziehung heute mehr zu einem Kampf als zu einer Freude?

Kindererziehung war nie - und war auch nie dazu bestimmt - eine Aufgabe für eine oder zwei Personen. Eltern hatten früher ein Dorf, eine Sippe, oder zumindest eine Großfamilie, die bei der Kinderpflege half und Zeit mit ihren Kindern verbrachte. Wenige Familien haben heutzutage noch die Unterstützung von Großeltern, Tanten, Onkeln oder Kindermädchen, die unter einem Dach leben. Selbst wenn beide Elternteile im gleichen Haushalt leben, dann ist doch mindestens einer von ihnen über längere Zeitspannen nicht verfügbar. Sobald nur ein Erwachsener da ist, der sich über längere Zeit um die Kinder kümmert, bleibt oft nicht die Zeit, Aufmerksamkeit oder Energie, die Bedürfnisse jedes einzelnen zu erfüllen. Ob eine Familie aus einem alleinerziehenden Elternteil und einem Kind; Mutter, Vater und drei Kindern; zwei Partnern und zwei Kindern oder einem "Flickwerk" mit mehreren Müttern, Vätern und Stiefgeschwistern besteht – die meisten Familien haben zu wenig erwachsene Helfer.

Meine Erfahrung mit Kinder ist, dass es eine Freude ist, mit ihnen zusammen zu sein, wenn ihre Bedürfnisse erfüllt sind und sie durch nichts verletzt werden. Ich habe gelernt, dass Kinder nicht immer die Worte haben, uns mitzuteilen, was sie verletzt oder was sie brauchen. Daher drücken sie ihre starken Bedürfnisse durch ihr Verhalten aus. Wenn Kinder uns keine Freude bereiten, resultiert ihr Verhalten meist aus einem unerfüllten Bedürfnis. Genau wie der Schrei eines Babys dazu bestimmt ist, uns zu stören und in Aktion zu versetzen, um die Bedürfnisse des Babys zu erfüllen, ist das Verhalten von Kindern, das aus starken Bedürfnisses resultiert, dafür gedacht, uns zu stören und zu einer Tat zu bewegen, damit die Bedürfnisse des Kindes erfüllt werden.

Ironischerweise versuchen Erwachsene oft, das Verhalten des Kindes zu verändern, wenn es durch „bedürftiges Verhalten“ seine unerfüllten Bedürfnisse mitteilt. Solange wir versuchen, das Verhalten zu ändern, anstatt die Bedürfnisse zu erfüllen, wird dieses „bedürftige Verhalten“ bestehen bleiben. Wenn wir in dem Moment, in dem uns das „bedürftige Verhalten“ unserer Kindern verrückt macht, unser eigenes Verhalten betrachten, entdecken wir meistens, dass wir nicht viel Zeit mit ihnen verbracht haben und zu beschäftigt und gestresst waren, wirklich mit ihnen in Kontakt zu treten. Wenn wir unser Verhalten zu den Zeiten betrachten, in denen wir unsere Kinder genießen, werden wir merken, dass wir Zeit mit ihnen verbringen und sie nicht von einem Ort zum anderen hetzen.

Es gibt viele Gründe, warum Kinder unerfüllte Bedürfnisse haben. Manchmal können wir die Bedürfnisse unserer Kinder nicht hören, weil unsere eigenen Bedürfnisse so laut schreien. Manchmal fehlt es uns an Information über ihre Bedürfnisse. Manchmal haben wir so wenig Vertrauen zu unserer eigenen inneren Stimme, dass wir auf Ratschläge hören, die der Erfüllung der Bedürfnisse unserer Kinder entgegenstehen. Meistens allerdings ist die Ursache, dass Kinder nicht das bekommen, was sie brauchen, einfach die Tatsache, dass unser Leben zu geschäftig ist und wir nicht genügend Zeit haben, mit ihnen zusammen zu sein und sie einfach sie selbst sein zu lassen. Eine der Ursachen, warum Eltern zu beschäftigt sind, ist, dass wir keine ausreichende Anzahl an Erwachsenen haben, die all das tun, was getan werden muss. Der Verlust der Großfamilie hat sich als verheerend für die Erziehung und die Kindheit herausgestellt.

Kindheit heute unterscheidet sich sehr von dem, was sie einmal war. Eltern haben mehr zu tun und von Kindern wird erwartet, dass sie sich dem Tempo anpassen. Es gibt so viel mehr Dinge zu erledigen und soviel Orte, wo man hingehen muss. Kinder müssen zum Kindergarten, zur Schule, zu Spielen, Stunden und Terminen. Sie verbringen ebenso viel Zeit (oder mehr) im Auto auf der Fahrt zu diesen Aktivitäten und zurück nach Hause, wie sie bei der Aktivität selbst verbringen. Kinder sind oft auf dem Weg von einem Ort zum anderen. Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern und Zeit für unstrukturiertes Spiel, Zeit, einfach sie selbst zu sein. Davon steht Kindern heutzutage nicht viel zur Verfügung. Die meisten Kinder verbringen heute weniger Zeit zu Hause, mit ihren Familien, als dies je Kinder getan haben.

Die meisten Eltern sagen mir, dass Übergangsphasen die Zeiten sind, wo die größten Konflikte mit ihren Kindern auftreten. Morgens aus dem Haus zu kommen und die abendliche Schlafenszeit sind oft ein einziger Kampf. Es scheint, dass gerade das, was uns an unseren Kindern erfreut, auch das ist, was uns am meisten auf die Palme bringt. Kinder leben im Jetzt. Ihre Aufmerksamkeit ist völlig darauf gerichtet, was sie brauchen, fühlen oder gerade im Moment tun. Wenn wir sie drängen, um aus dem Haus zu kommen, oder versuchen, sie ins Bett zu bekommen, sind wir nicht im Jetzt. Wir denken darüber nach, wo wir hingehen und was wir als nächstes erledigen müssen. Wenn Übergang bedeutet, dass Kinder eine Tätigkeit unterbrechen sollen, der sie gerade glücklich und zufrieden nachgehen, und etwas anderes tun sollen, das sie vielleicht noch nicht einmal tun möchten, liegt es in der Natur der Dinge, dass sie sich widersetzen.

Der einzig wahre Konflikt, der zwischen Eltern und Kindern besteht, ist ein Bedürfniskonflikt. Es ist unser Bedürfnis, aus dem Haus zu kommen. Es ist unser Bedürfnis, die Kinder ins Bett zu bringen. Wenn das Bedürfnis eines Kindes, Zeit mit uns zu verbringen oder einfach es selbst zu sein, nicht erfüllt wird, wissen sie, dass aus dem Haus zu kommen oder ins Bett zu gehen seine Bedürfnisse nicht erfüllen wird. Wenn Kinder ihre unerfüllten Bedürfnisse durch ihr Verhalten ausdrücken und dieses Verhalten mit den Bedürfnissen der Eltern kollidiert, wird der Bedürfniskonflikt zum Machtkampf.

Diesen Sommer haben mir viele Eltern erzählt, wie sehr sie ihre Kinder genossen haben, als sie in Urlaub waren und/oder als sie Besuch von Familie oder Freunden hatten. Als ich fragte, warum sie ihre Kinder in solchen Zeiten so sehr geniessen, lautete die Antwort immer gleich: "Wir hatten mehr Zeit und es waren mehr Erwachsene da, die erledigen konnten, was zu tun war, so dass wir alle mehr Zeit für uns selbst hatten und mehr Energie und Aufmerksamkeit für die Kinder." Wie können wir dafür sorgen, dass das in unserem Alltag öfter so ist?

Wir könnten damit beginnen, im kleinen mehr "erwachsene Ressourcen" aufzubauen. Wir Eltern könnten Familienmitglieder oder Freunde bitten, regelmäßig mehr Zeit mit unserer Familie zu verbringen. Wir können andere Familien einladen, etwas mit unserer Familie zu unternehmen, und einzelne Freunde einladen, Teil unserer Familie zu sein. Wir können eine "erweiterte Wahlfamilie" aufbauen. Wenn es mehr Erwachsene gibt, die die Bedürfnisse von Kindern erfüllen können, gibt es seltener Bedürfniskonflikte und weniger Machtkämpfe. Selbst wenn nur eine Stunde pro Woche mehr "erwachsene Ressourcen" zur Verfügung stehen, kann das eine positive Veränderung sein.

Für mehr Ressourcen zu sorgen bedeutet um Unterstützung zu bitten. Die meisten Eltern finden es schwierig zu fragen. Wir fühlen uns vielleicht, als würden wir uns aufdrängen, oder sind der Meinung, dass wir ganz allein damit fertig werden sollten. Niemand von uns kann das gut bewerkstelligen, nicht allein. Die Zeit hat uns das gezeigt. Wir müssen  zusammenarbeiten, damit es für alle funktioniert. Die Kinder, die heute auf uns angewiesen sind, damit ihre Bedürfnisse erfüllt werden, werden eines Tages die Erwachsenen sein, von denen abhängt, dass unsere Bedürfnisse erfüllt werden. Sie werden nur geben können, was sie auch von uns bekommen haben.

Wir werden keine zweite Chance bekommen, "unsere Kinder zu genießen, solange sie klein sind". Die Bedürfnisse von Kindern zu erfüllen, braucht Zeit, Energie und menschliche Ressourcen. Wenn wir nicht für die Ressourcen sorgen, die uns die nötige Zeit und Energie geben, um die Bedürfnisse der Kinder jetzt zu erfüllen, da sie klein sind, werden wir viel Zeit damit verbringen, uns mit dem durch ihre unerfüllten Bedürfnisse hervorgerufenen Verhalten auseinander zu setzen, wenn sie groß sind. Kindheit ist Jetzt. Je mehr Ressourcen wir mobilisieren, desto eher werden die Bedürfnisse aller erfüllt. Je mehr die Bedürfnisse aller erfüllt werden, desto mehr werden wir alle die Kinder genießen, wenn sie klein sind UND wenn sie groß sind.
 

© Copyright Pam Leo
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: www.connectionparenting.com/parenting_articles/childhood.html