Ich lebe, also lerne ich: ein Leben ohne Schule
  von Pam Sorooshian

Das Leben ohne Schule zu beschreiben ist einfach und schwierig zugleich. Die einfache Antwort lautet, dass es bedeutet, "nicht zur Schule zu gehen", aber es ist wesentlich schwieriger zu erklären, was wir stattdessen tun.

Selbst bestimmt zu lernen bedeuten, dass man die üblichen Schulmethoden hinter sich lässt. Es bedeutet, keine Stundenpläne, keine Lehrpläne, keine Aufgaben, kein Abfragen oder Testen, keine Auswendiglernen und keine Noten. Es bedeutet, dass die Eltern nicht zum Lehrer des Kindes werden – es bedeutet, dass man zu Hause kein Mini-Klassenzimmer erschafft.  

Stattdessen versuchen Familien mit selbst bestimmt lernenden Kindern einfach, gemeinsam ein reiches und stimulierendes Leben zu leben. Im Ernst, das ist alles. Wir machen keinen "Unterricht", sondern konzentrieren uns auf ein Leben voller Erlebnisse und Gelegenheiten und Möglichkeiten. Menschenkinder sind geborene Lerner. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ziel ist es, die Liebe zum Lernen und die ungeheure Neugierde aufrecht zu erhalten, wenn e Kinder älter werden.

Wie tun wir dies? In der Praxis sieht das in jeder Familie mit selbst bestimmt lernenden Kindern sehr unterschiedlich aus. "Wir gehen unseren Interessen nach.", lautet die Hymne selbst bestimmt lernenden Familien. Die unterschiedlichen Interessen jeder Familie führen zu einer ganzen Reihe von Lernerlebnissen: Geschichte, Mathe, Schreiben, Musik, Lesen, Naturwissenschaften, und alle anderen Gebiete des wirklichen Lebens, die wichtig und interessant sind, spielen eine Rolle. Aber wir betrachten sie nicht als Fächer. Wir finden sie einfach nur interessant und faszinierend und etwas, das wir weiter verfolgen wollen, oder auch nicht. Eins führt zum anderen und das Leben geht weiter und Kinder lernen und Eltern lernen und das Leben ist voller Möglichkeiten, wo immer wir hinschauen. 

Es ist natürlich für uns Menschen zu lernen – jeder auf seine eigene Art und Weise. Es ist natürlich für Kinder, dass sie die Welt um sich herum verstehen möchten. Ebenso wollen sie an der Welt der Erwachsenen teilhaben und selbst zu kompetenten und lebenstauglichen Erwachsene werden. Sie streben danach jeder auf seine ihm eigene Weise. Eltern von unbeschulten Kindern versuchen zu Hause eine Umgebung zu schaffen, die den natürlichen Wunsch ihrer Kinder unterstützt, zu lernen und zu sich zu entwickeln.

Jedes Kind ist einzigartig und erlebt die Welt anders als jeder andere Mensch und äußert sich in einer Art und Weise, die sich von jedem anderen Menschen unterscheidet. Kein Lehrplan auf der Welt ist so speziell und dynamisch an jedes einzelne Kind angepasst, doch das Leben ohne Schule kann tatsächlich 100%ig individualisierte Lernerfahrungen bieten. Unbeschulte Kinder lernen vermutlich nicht genau das, was professionelle Pädagogen und Lehrbuchverlage sich vorstellen – in gewisser Weise haben sie also Lücken in ihrer Bildung. Aber gleichzeitig werden sie sehr viel lernen, was nicht auf jenen Listen der "Lernanforderungen" steht. Was für den einen wichtig ist zu lernen, muss nicht unbedingt auch für den anderen von Bedeutung sein, und wir haben keine Möglichkeit vorherzusehen, welches Wissen in der Zukunft maßgeblich sein wird. Wir wissen jedoch, dass Lernen, welches unter Zwang oder Druck stattfindet, nicht von Dauer ist und dass der Großteil dessen, was Kindern "beigebracht" wird, nicht wirklich dauerhaft "gelernt" wird, es sei denn, sie interessieren sich dafür. 

Menschen, die selbst bestimmt lernen, sehen die gesamte Lebensspanne als Zeit zum Lernen an. Es interessiert und nicht, ob ein Kind auf "Klassenniveau" ist, weil wir wissen, dass Kinder immer "irgendetwas" lernen und dass sie schon irgendwann lernen werden, was sie wissen müssen, aus welchen Gründen auch immer. Wir machen uns keine Sorgen, dass sie etwas Wichtiges verpassen könnten, denn sollte es wirklich wichtig sein, werden sie dies  merken und einen Weg finden, es zu lernen.

Ein wahrer Slogan des Lebens ohne Schule ist: "Leben ist Lernen, Lernen ist Leben." Selbst bestimmt lernende Familien unterscheiden nicht zwischen Zeiten, die dem Lernen gewidmet werden, und solche, in denen kein Lernen stattfindet. Sie unterteilen das Leben nicht in Schulzeit oder Unterrichtszeit auf der einen und Spielzeit oder Freizeit auf der anderen Seite. Für unbeschulte Kinder gibt es keine "außerschulischen" Aktivitäten – das ganze Leben, jede Minute jedes Tages, zählt als Zeit zum Lernen. Es gibt keine speziellen Zeiten für Bildungszwecke. 

Ist das Leben ohne Schule für jedermann das Richtige? Meine Antwort lautet: "Das kommt darauf an." Ich bin überzeugt, dass ALLE Kinder selbst bestimmt lernen, sich entwickeln und entfalten können. Aber ich glaube auch, dass das Leben ohne Schule auf Seiten der Eltern eine gewisse Intensität und Konzentration auf das Leben, ebenso wie eine große Begeisterung erfordert. Die Eltern unbeschulter Kinder haben einen harten Job. Sie müssen beispielsweise einen hohen Grad an Sensibilität entwickeln, um herauszufinden, was sie ihren Kindern anbieten sollten, wann sie Unterstützung benötigen, wann sie sich zurückhalten sollten, wie beschäftigt die Kinder sein möchten, wie viel Zeit sie für sich selbst brauchen, wann sie ein bisschen Ermunterung brauchen, wann sie sich mehr einbringen sollten, und so weiter. UND Eltern müssen in der Lage sein, ihre Kinder und deren Interessen jederzeit im Hinterkopf zu haben, und immer überlegen, was sie interessieren könnte; die Welt zu ihnen bringen und sie in die Welt einführen, und zwar auf eine Weise, dass es für dieses bestimmte Kind "Klick" macht. Zudem erfordert es ein enormes Vertrauen in die Fähigkeit des Kindes, ohne Druck von außen zu lernen.

Wir könnten nach dem Lehrplan vorgehen; ich könnte für jeden Tag mehrere Stunden "Schularbeiten" zusammenstellen und darauf bestehen, dass meine Kinder diese erledigen. Doch ich habe alles über das Lernen gelesen, was ich in die Finger bekommen habe, und ich habe 30 Jahre Lehrerfahrung und ich weiß tief in meinem Herzen, dass jede Art von Zwang im Lernprozess entweder offenen Widerstand, Passivität oder Apathie hervorruft, und ich wünsche mir nichts dergleichen für meine Kinder. Lernen fühlt sich gut an; es mag anstrengend sein, aber es macht auch Spaß. Zwang fühlt sich nicht gut an und unter Zwang zu lernen macht keinen Spaß, selbst wenn wir das Beste daraus machen. Welche Auswirkungen diese Art des Lernens hat, zeigen uns die Kinder, die bisher nur die Freude des Lernens ohne Zwang erlebt haben, durch ihre unglaubliche Kreativität, ihr Selbstvertrauen, ihre Intensität, ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Ausdauer, ihre Selbsterkenntnis und ihr ausgeprägtes persönliches Verantwortungsgefühl. 

Nicht alle Eltern WOLLEN, dass ihre Kinder einen starken Willen und einen wirklich unabhängigen Geist entwickeln. Und man muss wohl auch eine Warnung aussprechen: "Seien Sie vorsichtig, was sie anstreben." Wenn uns hauptsächlich wichtig ist, dass unsere Kinder uns respektieren und unsere Werte und Ziele übernehmen, ist das Leben ohne Schule vielleicht nicht das Richtige für uns. Viele Eltern haben eine allgemeine Definition von "Erfolg" in ihren Köpfen und sie möchten, dass ihre Kinder auf ihre Art erfolgreich sind. Viele möchten ihre Kinder als lebenden Beweis, dass sie gute Eltern sind; mitunter sind sie sogar mehr an Resultaten interessiert, die Freunde, Verwandte und Bekannte beeindrucken. Auch in diesem Fall ist das Leben ohne Schule möglicherweise keine gute Wahl.

Familien mit unbeschulten Kindern haben durchaus Ziele, die den täglichen Umgang mit unseren Kindern beeinflussen. Wir möchten, dass unsere Kinder die Leidenschaften ihres Lebens entdecken und sich mit vollem Eifer darauf stürzen, erfüllt von Selbstbewusstsein und Vertrauen in das Leben. Wir möchten, dass unsere Kinder tief in ihrem Innern wissen, dass sie stark und fähig sind und dass sie für sich selbst Entscheidungen treffen können. Wir möchten, dass sie bereit sind, sich der Masse der Gesellschaft entgegen zu stellen UND gleichzeitig aber auch der Gegenkultur, und dass sie für sich selbst denken und tun, was sie für richtig und gut und löblich und wertvoll erachten. Und mehr als alles andere, glaube ich, möchten wir, dass sie ihr Leben lieben – heute und in Zukunft.

© Copyright Pam Sorooshian

Dieser Artikel ist ursprünglich in der Zeitschrift HSC der Home School Association of California, Ausgabe April 2005, erschienen.

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original:
sandradodd.com/pam/ilive