Das
Leben ohne Schule zu beschreiben ist einfach und schwierig zugleich.
Die
einfache Antwort lautet, dass es bedeutet, "nicht zur Schule zu gehen",
aber es ist wesentlich schwieriger zu erklären, was wir
stattdessen tun.
Selbst
bestimmt zu lernen bedeuten, dass man die üblichen Schulmethoden
hinter sich
lässt. Es bedeutet, keine Stundenpläne, keine Lehrpläne,
keine Aufgaben, kein
Abfragen oder Testen, keine Auswendiglernen und keine Noten. Es
bedeutet, dass
die Eltern nicht zum Lehrer des Kindes werden – es bedeutet, dass man
zu Hause
kein Mini-Klassenzimmer erschafft.
Stattdessen
versuchen Familien mit selbst bestimmt lernenden Kindern einfach,
gemeinsam ein
reiches und stimulierendes Leben zu leben. Im Ernst, das ist alles. Wir
machen
keinen "Unterricht", sondern konzentrieren uns auf ein Leben voller
Erlebnisse und Gelegenheiten und Möglichkeiten. Menschenkinder
sind geborene Lerner. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ziel
ist es, die
Liebe zum Lernen und die ungeheure Neugierde aufrecht zu erhalten, wenn
e
Kinder älter werden.
Wie
tun wir dies? In der Praxis sieht das in jeder Familie mit selbst
bestimmt
lernenden Kindern sehr unterschiedlich aus. "Wir gehen unseren
Interessen
nach.", lautet die Hymne selbst bestimmt lernenden Familien. Die
unterschiedlichen
Interessen jeder Familie führen zu einer ganzen Reihe von
Lernerlebnissen:
Geschichte, Mathe, Schreiben, Musik, Lesen, Naturwissenschaften, und
alle
anderen Gebiete des wirklichen Lebens, die wichtig und interessant
sind,
spielen eine Rolle. Aber wir betrachten sie nicht als Fächer. Wir
finden sie
einfach nur interessant und faszinierend und etwas, das wir weiter
verfolgen
wollen, oder auch nicht. Eins führt zum anderen und das Leben geht
weiter und
Kinder lernen und Eltern lernen und das Leben ist voller
Möglichkeiten, wo
immer wir hinschauen.
Es
ist natürlich für uns Menschen zu lernen – jeder auf seine
eigene Art und
Weise. Es ist natürlich für Kinder, dass sie die Welt um sich
herum verstehen
möchten. Ebenso wollen sie an der Welt der Erwachsenen teilhaben
und selbst zu kompetenten
und lebenstauglichen Erwachsene werden. Sie streben danach jeder auf
seine ihm
eigene Weise. Eltern von unbeschulten Kindern versuchen zu Hause eine
Umgebung
zu schaffen, die den natürlichen Wunsch ihrer Kinder
unterstützt, zu lernen und
zu sich zu entwickeln.
Jedes
Kind ist einzigartig und erlebt die Welt anders als jeder andere Mensch
und
äußert sich in einer Art und Weise, die sich von jedem
anderen Menschen
unterscheidet. Kein Lehrplan auf der Welt ist so speziell und dynamisch
an
jedes einzelne Kind angepasst, doch das Leben ohne Schule kann
tatsächlich 100%ig
individualisierte Lernerfahrungen bieten. Unbeschulte Kinder lernen
vermutlich
nicht genau das, was professionelle Pädagogen und Lehrbuchverlage
sich
vorstellen – in gewisser Weise haben sie also Lücken in ihrer
Bildung. Aber
gleichzeitig werden sie sehr viel lernen, was nicht auf jenen Listen
der "Lernanforderungen"
steht. Was für den einen wichtig ist zu lernen, muss nicht
unbedingt auch für
den anderen von Bedeutung sein, und wir haben keine Möglichkeit
vorherzusehen,
welches Wissen in der Zukunft maßgeblich sein wird. Wir wissen
jedoch, dass
Lernen, welches unter Zwang oder Druck stattfindet, nicht von Dauer ist
und
dass der Großteil dessen, was Kindern "beigebracht" wird, nicht
wirklich
dauerhaft "gelernt" wird, es sei denn, sie interessieren sich
dafür.
Menschen,
die selbst bestimmt lernen, sehen die gesamte Lebensspanne als Zeit zum
Lernen
an. Es interessiert und nicht, ob ein Kind auf "Klassenniveau" ist,
weil wir wissen, dass Kinder immer "irgendetwas" lernen und dass sie
schon irgendwann lernen werden, was sie wissen müssen, aus welchen
Gründen auch
immer. Wir machen uns keine Sorgen, dass sie etwas Wichtiges verpassen
könnten,
denn sollte es wirklich wichtig sein, werden sie dies
merken und einen Weg finden, es zu lernen.
Ein
wahrer Slogan des Lebens ohne Schule ist: "Leben ist Lernen, Lernen ist
Leben." Selbst bestimmt lernende Familien unterscheiden nicht zwischen
Zeiten, die dem Lernen gewidmet werden, und solche, in denen kein
Lernen
stattfindet. Sie unterteilen das Leben nicht in Schulzeit oder
Unterrichtszeit
auf der einen und Spielzeit oder Freizeit auf der anderen Seite.
Für unbeschulte
Kinder gibt es keine "außerschulischen" Aktivitäten – das
ganze
Leben, jede Minute jedes Tages, zählt als Zeit zum Lernen. Es gibt
keine
speziellen Zeiten für Bildungszwecke.
Ist
das Leben ohne Schule für jedermann das Richtige? Meine Antwort
lautet:
"Das kommt darauf an." Ich bin überzeugt, dass ALLE Kinder selbst
bestimmt lernen, sich entwickeln und entfalten können. Aber ich
glaube auch,
dass das Leben ohne Schule auf Seiten der Eltern eine gewisse
Intensität und
Konzentration auf das Leben, ebenso wie eine große Begeisterung
erfordert. Die
Eltern unbeschulter Kinder haben einen harten Job. Sie müssen
beispielsweise
einen hohen Grad an Sensibilität entwickeln, um herauszufinden,
was sie ihren
Kindern anbieten sollten, wann sie Unterstützung benötigen,
wann sie sich
zurückhalten sollten, wie beschäftigt die Kinder sein
möchten, wie viel Zeit
sie für sich selbst brauchen, wann sie ein bisschen Ermunterung
brauchen, wann
sie sich mehr einbringen sollten, und so weiter. UND Eltern müssen
in der Lage
sein, ihre Kinder und deren Interessen jederzeit im Hinterkopf zu
haben, und
immer überlegen, was sie interessieren könnte; die Welt zu
ihnen bringen und sie in die Welt einführen, und zwar auf eine
Weise, dass es
für dieses bestimmte Kind "Klick" macht. Zudem erfordert es ein
enormes Vertrauen in die Fähigkeit des Kindes, ohne Druck von
außen zu lernen.
Wir
könnten nach dem Lehrplan vorgehen; ich könnte für jeden
Tag mehrere Stunden
"Schularbeiten" zusammenstellen und darauf bestehen, dass meine
Kinder diese erledigen. Doch ich habe alles über das Lernen
gelesen, was ich in
die Finger bekommen habe, und ich habe 30 Jahre Lehrerfahrung und ich
weiß tief
in meinem Herzen, dass jede Art von Zwang im Lernprozess entweder
offenen
Widerstand, Passivität oder Apathie hervorruft, und ich
wünsche mir nichts
dergleichen für meine Kinder. Lernen fühlt sich gut an; es
mag anstrengend
sein, aber es macht auch Spaß. Zwang fühlt sich nicht gut an
und unter Zwang zu
lernen macht keinen Spaß, selbst wenn wir das Beste daraus
machen. Welche
Auswirkungen diese Art des Lernens hat, zeigen uns die Kinder, die
bisher nur
die Freude des Lernens ohne Zwang erlebt haben, durch ihre unglaubliche
Kreativität, ihr Selbstvertrauen, ihre Intensität, ihre
Konzentrationsfähigkeit,
ihre Ausdauer, ihre Selbsterkenntnis und ihr ausgeprägtes
persönliches
Verantwortungsgefühl.
Nicht
alle Eltern WOLLEN, dass ihre Kinder einen starken Willen und einen
wirklich
unabhängigen Geist entwickeln. Und man muss wohl auch eine Warnung
aussprechen:
"Seien Sie vorsichtig, was sie anstreben." Wenn uns hauptsächlich
wichtig ist, dass unsere Kinder uns respektieren und unsere Werte und
Ziele
übernehmen, ist das Leben ohne Schule vielleicht nicht das
Richtige für uns.
Viele Eltern haben eine allgemeine Definition von "Erfolg" in ihren
Köpfen und sie möchten, dass ihre Kinder auf ihre Art
erfolgreich sind. Viele
möchten ihre Kinder als lebenden Beweis, dass sie gute Eltern
sind; mitunter
sind sie sogar mehr an Resultaten interessiert, die Freunde, Verwandte
und
Bekannte beeindrucken. Auch in diesem Fall ist das Leben ohne Schule
möglicherweise keine gute Wahl.
Familien
mit unbeschulten Kindern haben durchaus Ziele, die den täglichen
Umgang mit
unseren Kindern beeinflussen. Wir möchten, dass unsere Kinder die
Leidenschaften ihres Lebens entdecken und sich mit vollem Eifer darauf
stürzen,
erfüllt von Selbstbewusstsein und Vertrauen in das Leben. Wir
möchten, dass
unsere Kinder tief in ihrem Innern wissen, dass sie stark und
fähig sind und
dass sie für sich selbst Entscheidungen treffen können. Wir
möchten, dass sie
bereit sind, sich der Masse der Gesellschaft entgegen zu stellen UND
gleichzeitig aber auch der Gegenkultur, und dass sie für sich
selbst denken und
tun, was sie für richtig und gut und löblich und wertvoll
erachten. Und mehr
als alles andere, glaube ich, möchten wir, dass sie ihr Leben
lieben – heute
und in Zukunft.
© Copyright Pam Sorooshian
Dieser
Artikel ist ursprünglich in der Zeitschrift HSC der Home School
Association of
California, Ausgabe April 2005, erschienen.
Aus
dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: sandradodd.com/pam/ilive