Homeschooling in Kanada |
|
Stefanie Mohsennia |
Mein Sohn Julian ist
8 und geht
nicht zur Schule. Was in Deutschland ein Skandal wäre, ist in
vielen Ländern
ein alternativer Bildungsweg, den immer mehr Familien einschlagen:
Homeschooling, ein Leben ohne Schulbesuch. Julian kennt keinen
Stundenplan,
keine Lehrpläne, keine Hausaufgaben, keine Klassenarbeiten, keine
Zeugnisse…
Lernen findet für ihn auf natürliche Weise im Laufe des Tages
- oder häufig im
Laufe des Abends – statt, und er lernt, was ihn interessiert.
Die kanadische Provinz British Columbia, in der wir seit einem Jahr leben, bietet Homeschooling-Familien grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Sie können die Kinder einmal pro Jahr lediglich bei der örtlichen Schulbehörde registrieren lassen oder sie an einer Fernschule einschreiben. Registrierte Kinder, die eigentlichen Homeschooler, brauchen keinerlei Auflagen zu erfüllen. Es müssen keine Prüfungen abgelegt werden; es findet keine Einmischung des Staates statt, die Familie allein entscheidet über das Bildungsprogramm der Kinder – allerdings erhalten die Eltern auch keine (oder nur sehr geringe) finanzielle Unterstützung. Als Alternative dazu existieren verschiedene Fernschulen, bei denen die Kinder angemeldet werden können. Sie gelten dann nicht offiziell als Homeschooler (und werden in den entsprechenden Statistiken auch nicht als solche aufgeführt), sondern als "Distributed Learning Students". |
|
Die Organisation,
bei
der mein
Sohn eingeschrieben ist, heißt "SelfDesign" und kann wohl kaum
als
"Schule" bezeichnet werden. Ihr Motto lautet: "Kindern erlauben
zu lernen, was sie lieben... und zu lieben, was sie lernen". Das
Konzept
steht ganz im Einklang mit John Holts Vorstellung von der idealen
Lernumgebung:
"Kinder lernen von allem, was sie sehen. Sie lernen, wo auch immer sie
sind, nicht nur an speziellen Lernorten. Sie lernen viel mehr von
Dingen,
natürlich oder hergestellt, die für sich genommen wirklich
und bedeutsam in der
Welt sind, und nicht einzig zu dem Zweck hergestellt, Kinder beim
Lernen zu
unterstützen; mit anderen Worten, sie interessieren sich mehr
für Objekte und
Werkzeuge, die wir im regulären Leben benutzen als für
beinahe alle speziellen
Lernmaterialien, die für sie hergestellt werden. Wir können
Kinder am besten
beim Lernen unterstützen, nicht indem wir entscheiden, was sie
unserer Meinung
nach lernen sollten, und indem wir uns geniale Wege ausdenken, ihnen
dies
beizubringen, sondern indem wir ihnen die Welt, soweit wir können,
zugänglich
machen, ihren Aktivitäten ernsthafte Aufmerksamkeit schenken, ihre
Fragen
beantworten – wenn sie welche haben – und ihnen helfen, die Dinge zu
erforschen, die sie am meisten interessieren." (Holt, John: Learning
all
the time, 1989, S. 162) |
|
Im laufenden
Schuljahr 2006/2007
sind 475 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 14 Jahren bei
SelfDesign eingeschrieben und werden von 50 "Lernberatern" (learning
consultants) betreut. Pro Lerner erhält die Fernschule vom
Ministerium in
British Columbia rund Can$3.300,-, etwa die Hälfte der Mittel, die
das
Ministerium öffentlichen Schulen pro Schüler zur
Verfügung stellt. Can$1.000,-
(etwa 650,- EUR) von diesem Geld wird an die Familien weitergegeben, um
Ausgaben für Kurse, Lernmaterialien, Eintrittskarten für
Museen etc.
abzudecken. Im Dezember 2006 ist das innovative
Online-Fernlern-Programm von
SelfDesign für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der
Pädagogik mit einem
Preis des Premierministers ausgezeichnet worden. In der Begründung
der
Auszeichnung heißt es, dass die Lernberater das Lernen jedes
Schülers
individuell unterstützen und auf dem Enthusiasmus des Lernenden
aufbauen,
anstatt auf Unterricht und Lehrpläne zu setzen.
|
|
In der Praxis sieht
es bei
SelfDesign so aus, dass wir jede Woche (34 Wochen pro Jahr zwischen
Anfang
September und Ende Juni) mindestens 25 Stunden "Lernaktivitäten"
in
den verschiedenen Bereichen protokollieren und einen Bericht über
die
Höhepunkte der Woche schreiben. Eine typische Woche aus dem
Februar 2007 – wenn
man bei uns überhaupt von einer typischen Woche sprechen kann -
sah bei uns
hinsichtlich der Stunden beispielsweise so aus:
|
Sonntag | ||
1 Std. |
"Timothy goes to school" und "Daniel Cook" geguckt – Englisch | |
1 Std. | Papa beim Aufbau eines neuen Schrankes geholfen – praktisches Leben | |
1 Std. | CD-ROM "Mathematikus 3" gespielt – Mathe | |
0,75 Std. | "Antonio Vivaldi" (CD ueber sein Leben auf Deutsch) gehört - Geschichte | |
0,5 Std. | "Henry Ford – Young man with ideas" (Childhood of famous Americans) vorgelesen bekommen - Geschichte | |
Montag |
||
1,5 Std. | Liste aller Stofftiere aufgestellt (mit Namen und Art) - Deutsch | |
0,5 Std. | "National
Geographic World" gesehen - Naturwissenschaften |
|
1 Std. | Taekwon-Do-Training – Sport | |
1 Std. | "Laden" aufgebaut, Verkaufen gespielt (Wechselgeld ausgerechnet, Kassenbon geschrieben) – Mathe, Deutsch | |
"Henry Ford – Young man with ideas" (Childhood of famous Americans) vorgelesen bekommen - Geschichte | ||
Dienstag | ||
1,5 Std. | "Pippi
plündert den Weihnachtsbaum" gelesen - Deutsch |
|
1 Std. | Zeichenunterricht – Kreativität/Kunst/Musik | |
1 Std. | Hallenturnen – Sport | |
1,5 Std. | Liste der Stofftiere von gestern auf dem Computer in Word abgetippt und gestaltet – Deutsch, Informationstechnologie | |
Mittwoch |
||
0,5 Std. | zwei Seiten aus "Math made easy, Grade 2" - Math | |
2,5 Std. | Treffen mit Homeschooling-Gruppe – Englisch | |
1 Std. | Taekwon-Do-Training
– Sport |
|
0,75 Std. | "Henry
Ford – Young man with ideas" (Childhood of famous Americans) vorgelesen
bekommen - Geschichte |
|
Donnerstag | ||
1,5 Std. | Snowboard-Kurs - Sport | |
2,5 Std. | Ski gefahren - Sport | |
1 Std. | mit Baufix Auto für Stofftier gebaut – Kreativität/Kunst/Musik | |
Freitag | ||
0,5 Std. | Flugzeug-Trumpf gespielt - Mathe
(sechsstellige Zahlen lesen, Zahlen vergleichen - groesser/kleiner) |
|
0,5 Std. | "Why do volcanoes erupt?" gelesen - Naturwissenschaften | |
1 Std. | Aufgaben auf www.rechenheft.com gelöst - Mathe | |
1 Std. | "Am Samstag kam das Sams zurück" vorgelesen bekommen - Deutsch | |
Samstag |
||
1 Std. | Okanagan Science Centre: Experimente mit Wasser und Luft - Naturwissenschaften | |
0,5 Std. | "Henry’s Amazing Animals" geguckt - Naturwissenschaften | |
1 Std. | mit der Webcam (Logitech QuickCapture) Fotos und Filme von sich selbst gemacht – Informationstechnologie | |
2 Std. | Monopoly gespielt (Würfelaugen zusammen gezählt, mit Spielgeld gerechnet) – Mathe |
Das wären
zusammen 31 Stunden an
protokollierten Lernaktivitäten für diese Beispielwoche von
Sonntag bis
Samstag. Es ist in keiner Weise vorgeschrieben, wie viele Stunden die
Kinder in
welchen Bereichen "absolvieren" sollten. Über die Monate verfolgt,
fällt bei uns über ein Viertel der Stunden in den Bereich
Sport und Gesundheit
und ein weiteres Viertel in den Bereich Fremdsprachenerwerb, da wir mit
unserer
Lernberaterin ausgemacht haben, dass Aktivitäten in Englisch
dieses Jahr für
Julian als Fremdsprache zählen. Die übrige Hälfte
erstreckt sich auf Mathe,
Deutsch, Gesellschaftswissenschaften, Naturwissenschaften,
Kreativität und
andere Fächer. Ich habe gemischte Gefühle beim Aufschreiben der Stunden, weil ich nicht glaube, dass sich Lernen quantifizieren lässt. Die Lernprozesse, die in unseren Köpfen und in den Köpfen unserer Kinder ablaufen, sind oft von aussen nicht beobacht- oder messbar. Manchmal sind sie nicht einmal uns selbst wirklich bewusst. Neulich im Auto eröffnete mir mein Sohn nach einer längeren Schweigephase plötzlich aus heiterem Himmel: "Mami, wenn man zwei ungerade Zahlen addiert, erhält man als Ergebnis immer eine gerade Zahl." Eine wichtige Entdeckung. Er hatte offensichtlich eine Zeitlang darüber nachgedacht und es im Kopf ausprobiert, während ich dachte, er schaut einfach so aus dem Fenster. Auch wenn diese Entdeckung nicht in die wöchentliche Lernzeit einfliesst, sind solche inneren Denkprozesse mindestens genauso wichtig wie Lernaktivitäten, die man als Aussenstehender beobachten kann. Genauso wenig ist mir wichtig, dass mein Sohn mir oder jemand anderem Beweise liefert über das, was er gelernt hat. Ich erlebe jeden Tag mit, wie kompetent er in vielen Dingen ist, was er beherrscht und womit er sich auseinander setzt. Nicht "Output", sichtbare Zeugnisse des Gelernten, sind entscheidend für mich, sondern das Lernen an sich. |
|
Neben dem
Protokollieren der
Stunden liefere ich wöchentlich einen Bericht über Julians
Lernaktivitäten ab.
Darin führe ich die Höhepunkte der Woche auf und erzähle
der Lernberaterin von
neuen Erkenntnissen oder Fähigkeiten, die Julian erworben hat. Aus
diesen
Berichten entnimmt unsere Lernberaterin Informationen über den
Lernstand des
Schülers und "übersetzt" sie sozusagen in die Sprache der
Lehrpläne,
um die Anforderungen aus dem Ministerium zu erfüllen. Die
Aktivitäten der
Kinder werden den einzelnen Lernzielen des staatlichen Lehrplans
zugeordnet und
so wird "abgehakt", was ein Kind sich in den verschiedenen Fächern
erarbeitet hat. Es ist recht zeitaufwendig, die wöchentlichen
Berichte zu
verfassen, doch der Aufwand des Protokollierens lohnt sich, da
hierdurch
detaillierte Rückblicke möglich sind und man Entwicklungen
des Kindes gut
verfolgen kann. Oft wird mir auch erst in dem Moment, wo ich versuche,
unsere
vielen Einzelaktivitäten für einen Wochenbericht zusammen zu
fassen, klar, wie
diese zahlreichen Mosaiksteinchen in das Gesamtbild hineinpassen.
Zweimal
jährlich erstellt der Lernberater in Zusammenarbeit mit dem
Lernenden und/oder
den Eltern einen umfassenden Lernstandsbericht (seasonal review). Andere Fernschulen halten die Lernfortschritte ihrer Schüler auf andere Weise fest. Bei der "Ebus Academy" (www.ebus.ca) beispielsweise, die in ganz British Columbia über 1.000 eingeschriebene Fernschüler hat, gibt es - genau wie an den öffentlichen Schulen - dreimal pro Jahr ein Zeugnis vom Betreuungslehrer. Hierfür reicht die Familie für jedes Fach aus dem staatlichen Lehrplan Arbeitsproben der Kinder ein. Eine bestimmte Anzahl von Stunden an Lernaktivität muss nicht nachgewiesen werden, wöchentliche Lernstandsberichte entfallen. |
|
Unabhängig
davon, wie die
Dokumentation der Lernfortschritte in den verschiedenen Fernschulen nun
konkret
aussieht – es wird in jeder Schule eine Akte über den
Fernschüler geführt, in
der sein Werdegang festgehalten wird. Das Bildungsministerium hat
keinen Zugang
zu diesen Daten und interessiert sich auch nicht für den einzelnen
Schüler.
Vielmehr werden in regelmäßigen Abständen die
Fernschulen an sich vor Ort
besucht. Bei diesen Inspektionen werden Gespräche mit den
Kontaktlehrern
geführt und es wird überprüft, ob die Richtlinien des
Ministeriums eingehalten
werden. Das Bildungsministerium in
British Columbia unterstützt Fernschüler und ihre Familien
nicht nur finanziell
mit rund Can$1.000,- pro Schuljahr, sondern fördert das „verteilte
Lernen“
(distributed learning) auch aktiv. Im Oktober 2006 hat
Bildungsministerin
Shirley Bond eine neue virtuelle Schule ins Leben gerufen. Unter www.learnnowbc.gov.bc.ca
können
Schüler der Klassenstufen 10 bis 12 Online-Kurse finden, die von
Schulen aus
der ganzen Provinz angeboten werden. Fünf Millionen Dollar sollen
in den
kommenden Jahren ausgegeben werden, um LearnNowBC auszubauen. Rund
17.000
Schüler aus British Columbia sind mittlerweile in Fernkursen
eingeschrieben. Unser erstes Schuljahr mit SelfDesign neigt sich dem Ende zu (unsere letzte Berichtswoche wird die Woche vom 6. bis 12. Mai sein) und dies ist ein guter Zeitpunkt, um eine Zwischenbilanz zu ziehen – etwas über ein Jahr nachdem wir nach Kanada gezogen sind. Was hat Julian alles in diesem Jahr gelernt? An oberster Stelle steht natürlich das Erlernen der englischen Sprache. Bevor wir nach Kanada kamen, kannte er nur einige wenige Worte. Hauptsächlich durch Vorlesen, Fernsehen und die Interaktion mit Kindern und Erwachsenen aus unserer Homeschooling-Gruppe, in verschiedenen Kursen, beim Einkaufen, etc. hat Julian in dem einen Jahr gelernt, sich auf Englisch zu verständigen; er versteht selbst wissenschaftliche Sendungen im Fernsehen und liest englische Kinderbücher ungefähr genau so schnell und gut, wie er auf Deutsch liest. Vor kurzem hat er mir in seinen Worten erklärt, wann man "continuous past tense" einsetzt - wenn man ausdrücken möchte, was gestern passiert ist, während man etwas anderes tat, Beispiel: "When you called me yesterday, I was going to the Superstore." Nicht schlecht für ein Jahr ohne jeglichen Unterricht, denke ich. |
Was hat Julian noch gelernt? Er
ist einem Taekwon-Do-Verein beigetreten und trainiert seit zehn Monaten
regelmäßig, zweimal die Woche. Vor kurzem hat er die
Prüfung zum Grüngurt
bestanden. Julian hat zwei Kurse im Hallenturnen gemacht und die
entsprechenden
Abzeichen bekommen. Zusammen haben wir über den Winter Skifahren
gelernt, insgesamt
32mal waren wir von Dezember bis Ende März auf der Piste. Im
letzten Herbst hat
Julian an einem Töpferkurs teilgenommen und Anfang dieses Jahres
mit einigen
Kindern aus unserer Homeschooling-Gruppe ein paar Stunden Mal- und
Zeichenunterricht genommen. Er hat die lateinische Schreibschrift
gelernt, in
verschiedenen Matheheften für die 2. und 3. Klasse gearbeitet und
aus Büchern,
Fernsehen und Unterhaltungen jede Menge Wissen in verschiedenen
Bereichen
aufgesogen.
Wir genießen unsere
Bildungsfreiheit in Kanada außerordentlich. Obwohl er seine Oma
und andere
Familienmitglieder und Freunde vermisst, steht für Julian fest,
dass er auf
keinen Fall zurück nach Deutschland möchte. Es ist wunderbar,
mitzuerleben, wie
mein Sohn sich selbst spontan die tollsten Projekte ausdenkt, wie er
sich die
Welt erobert und wie ganz von selbst eins zum anderen führt, wenn
wir unsere
Kinder die Initiative übernehmen lassen und ihnen zugestehen, dass
sie die
Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen. Wer
Interesse daran hat,
Julians Reise durch sein Leben ohne Schule mitzuverfolgen, ist herzlich
eingeladen, unser Online-Tagebuch
aufzurufen.
|