Die Tücken der Perfektion
von Wendy Priesnitz

Kreativität, Spontaneität, Leidenschaft. Darüber reflektieren unsere Autoren in dieser Ausgabe. Kinder decken spontan die Wunder mathematischer Konzepte auf, Teenager machen ihre Kunstleidenschaft entschlossen zu ihrem Beruf, junge Menschen erfreuen sich an ihren Erfolgen.

Spontaneität ist eine der größten Stärken kleiner Kinder; sie leben in der Gegenwart, folgen ihrer Neugierde, flitzen hierhin und dorthin, nehmen Gegenstände in die Hand und legen sie wieder fort, probieren Sachen aus, erforschen Dinge, lachen. Die Schule betrachtet Spontaneität mit Skepsis, und so ist es auch in vielen Jobs und selbst in den meisten der so genannten Hobbys. So zieht sich die Spontaneität aus dem Leben der meisten Menschen zurück, wie alles, das nicht eingesetzt oder zumindest nicht voll ausgeschöpft wird. Nur noch zögerlich und mit Hemmungen probieren wir Neues aus, drücken uns spontan aus. Und das ist bedauerlich, da die Spontaneität eine der Komponenten der Kreativität ist, die wir alle in unserem Privat- und Berufsleben stärker einsetzen könnten.

Die Spontaneität erlischt auch, wenn wir den Zwang entwickeln, alles perfekt zu machen (was im besten Fall sowieso eine schwammige Definition ist). Nehmen wir beispielsweise Malen, Singen oder Klavierspielen. Ja, einige Menschen – wie jene, um die es in dieser Ausgabe geht – sind äußerst begabte Künstler; aber wir können alle malen und musizieren, um unsere Ideen und Gefühle auszudrücken, zu kommunizieren und allgemein unser Leben zu genießen und schöner zu gestalten. Allerdings nur, wenn wir nicht zu gehemmt werden, dies zu tun, weil jemand – Kunstkritiker, Lehrer, Eltern oder unsere eigene von unserem geringen Selbstwertgefühl genährte Selbstkritik – festlegt, was gute Kunst ist und uns mitteilt, dass unser Platz im Publikum ist.

Der Weg zur Perfektion ist übersät mit Minen, die nur darauf warten, die Freude am Erschaffen und an der Spontaneität zu zerstören. Nehmen wir das Kind, das Spaß daran hat, auf dem Klavier herumzuklimpern. Irgendjemand kommt auf die Idee, dass dieses Kind aus seinem offensichtlichen Talent „etwas machen“ könnte, wenn es mit dem „notwendigen Ernst“ bei der Sache wäre. In diesem Moment hört der angehende Künstler auf zu spielen, bekommt einen Lehrer und fängt an zu üben. Ein strenger Plan wird aufgestellt und man nimmt an Wettbewerben und Prüfungen teil, immer auf der Jagd nach dem heiligen Gral der Perfektion.

Natürlich gibt es jene begnadeten Ausnahmen, die den Ehrgeiz haben, ihr spezielles Talent zu vervollkommnen, aber bei uns anderen kann die Freude und die Spontaneität des Spiels leicht auf der Strecke bleiben, wenn ein bestimmtes Ziel in den Vordergrund rückt. Es ist schade, wenn uns beigebracht wird, dass Lernen Arbeit ist, dass es ineffizient ist, verschiedene Wege auszuprobieren, dass es nicht in Ordnung ist, sich an der Entdeckung und der Erschaffung von etwas zu erfreuen und dass die einzig lohnenswerten Beschäftigungen im Leben jene sind, für die wir Belohnung oder Anerkennung ernten.


© Copyright Wendy Priesnitz
 

Ursprünglich veröffentlicht als Vorwort in der Zeitschrift "Life Learning : the International Magazine of Self-Directed Learning", Jan./Feb. 2005, ISSN 1499-7533, S. 3.

Aus dem Englischen übertragen von S. Mohsennia.