Es
steckt eine Ironie in der
Einstellung unserer Gesellschaft zu der Erziehung von Kindern. Wir
ermuntern
Eltern, kleine Kinder beim Erlernen zwei der schwierigsten und
wichtigsten
Dinge zu unterstützen, die sie je lernen werden: Laufen und
Sprechen. Des
Weiteren werden grundlegende Aspekte zum Erhalt unseres Lebensstils wie
beispielsweise Werte, Einstellungen, Traditionen und Gebräuche
ebenfalls
zunächst und am besten innerhalb der Familie erlernt. Dann
plötzlich, wenn ihre
Kinder ein bestimmtes magisches Alter erreicht haben, wird Eltern
unterstellt,
dass sie nicht mehr fähig sind, den Bildungsprozess ihrer Kinder
zu dirigieren.
Warum
gehen wir davon aus,
dass Fünfjährige nicht länger auf die gleiche Weise
lernen können, wie sie es
mit vier Jahren konnten, und statt dessen einen strukturierten Lehrplan
brauchen, der von speziell geschulten und staatlich geprüften
Erwachsenen
unterrichtet wird? Die überwiegende Mehrheit erarbeitet sich
ausreichende
Kompetenz im Laufen und Sprechen, um von der Stelle zu kommen und
miteinander
kommunizieren zu können. Die meisten von uns werden gar Meister
auf diesen
beiden Gebieten. Andererseits wird ein alarmierend hoher Anteil unserer
Bevölkerung als funktionale Analphabeten eingestuft – sie haben
die
schultypischen Fächer nicht gut genug gelernt, um zurecht zu
kommen.
So
hat sich eine Art Legende
um den Ersten Schultag gebildet, er ist regelrecht zu einem
Übergangsritual
geworden, der entscheidende Moment zum Durchschneiden der
Schürzenbänder, ein
erwünschter erster Schritt weg von der Familie, in Richtung
Selbständigkeit.
Die Tatsache, dass die Trennung sich zu einem Zeitpunkt ereignet, zu
dem das
Kind emotional, psychologisch oder pädagogisch gesehen noch nicht
dazu bereit
ist, scheint wenig Einfluss auf das Alter zu haben, welches das
Bildungssystem
für dieses Ritual wählt. In unserer Ära des gehetzten
Kindes gilt die Devise:
"Je früher, desto besser."
Ein
weiterer Faktor, der uns
darin bestärkt, unsere Kinder in immer jüngerem Alter
formellen Lernsituationen
auszusetzen, ist der Mangel an Verständnis und Akzeptanz (sowohl
durch das
Bildungssystem als auch durch die allgemeine Öffentlichkeit) des
Phänomens
'Spontanes Lernen'. Wenn Kinder klein sind, bemerken wir einen
großen Teil ihres
Lernens nicht. Das frühe Lernen vieler komplizierter Konzepte
findet eher
spontan statt, als Resultat von Verlangen und Neugierde. Und das Leben
ohne
Schule hat gezeigt, dass Kinder weiterhin auf diese Weise lernen
können während
sie heranwachsen – wenn ihnen erlaubt wird, ihrer Neugierde in einer
Umgebung nachzugehen, die, ihrem Alter entsprechend, ebenso
unterstützend und
stimulierend
ist wie die Umgebung, welche die meisten Eltern ihren Babys bieten.
Und
so tut sich vor einigen
Eltern, die nach besseren und natürlicheren Wegen suchen, ihre
Kinder beim
Aufwachsen zu unterstützen, die Alternative des Lernens ohne
Schule auf. Ihre
jeweiligen Gründe und Spezifika mögen sie sich unterscheiden,
aber diese
Familien haben alle den Wunsch gemeinsam, über die Erfahrung der
konventionellen Schule hinauszugehen und ihren Kindern zu bieten, was
auch
immer ihrer Definition einer besseren Bildung entspricht.
Es
ist schwierig, generelle
Aussagen über Familien zu treffen, deren Kinder keine Schule
besuchen, weil sie
solch eine große Bandbreite an philosophischen, religiösen
und pädagogischen
Einstellungen, an Lebensstilen und an finanziellen Situationen
abdecken. Aber
zwei grundlegende Kräfte treiben die Bewegung an: der positive
Wunsch, die
Bildung ihrer Kinder zu verbessern, und das eher negative Bestreben,
dem
formellen Bildungssystem zu entkommen.
Wenn
man versucht, die
Motivation hinter dem Leben ohne Schule zu verstehen, ist es sinnvoll,
über die
Unterschiede zwischen den Begriffen "Lernen", "Bildung" und
"Schule" nachzudenken. Der renommierte amerikanischen
Bildungsphilosoph John Dewey definiert Lernen als einen
persönlichen
Entwicklungsprozess, der auf Erfahrungen zurückzuführen ist.
Er beschrieb es
als "eine Rekonstruktion oder Reorganisation von Erfahrungen, welche
die
Bedeutung der Erfahrung erhöht und die Fähigkeit
verstärkt, den Verlauf
nachfolgender Erfahrungen zu steuern."1
Wenn
Lernen der innerliche
Prozess des Verstehens der Welt und des Erwerbs jenes Vertrauens ist,
das zur
Erforschung ihrer Arbeitsweise notwendig ist, dann ist Bildung, Deweys
Gedanken
weiterverfolgend, das absichtliche Beeinflussen dieses Prozesses. Die
lateinische Wurzel des Wortes 'education' [Bildung] ist 'educare',
welches
einen Prozess suggeriert, bei dem der Lernende unterstützt wird,
seine eigene
natürliche Fähigkeit zu entwickeln, die Welt zu entdecken und
zu verstehen.
Schule ist nur das organisierte Programm, das die Gesellschaft sich
ausgedacht
hat, um Bildung auszuteilen. Und der Lehrplan ist das Mittel, das
Schulprogramm
zu organisieren.
Diese
willkürliche Einordnung
des Wissens in ein organisiertes Programm mit bestimmten Fächern
ist der
zentrale Punkt der Unzufriedenheit vieler mit dem strukturierten
Bildungssystem. Sie sind der Meinung, dass die wahre Definition des
Lernens
vorschreibt, dass jeder Einzelne sich seinen persönlichen Lernplan
zusammenstellen
muss, und nicht einige Menschen das Recht haben sollten anzuordnen, was
andere
lernen sollen und wann. Sie lehnen die Einstellung ab, dass wirkliches
Lernen
nur das Ergebnis der Lehrtätigkeit eines Lehrers in einem
formellen Rahmen sein
kann, der auf diese Aktivität ausgerichtet ist, und dass das, was
wir selbst
lernen, unwichtig ist. Unsere Gesellschaft ist nicht daran
gewöhnt, Kindern zu
vertrauen, dass sie die Welt selbst ergründen können, und hat
das Gefühl, dass
man sie zwingen muss, damit sie etwas lernen; dass Kinder Rohmaterial
sind,
welches von Experten geformt werden muss, leere Gefäße, die
an einem Fließband
gefüllt werden müssen.
Nathan
Isaacs, britischer
Autor und Pädagoge, der die Werke des Schweizer Psychologen Jean
Piaget bekannt
gemacht hat, hat das typische Klassenzimmer als "Spiegel-Welt"
bezeichnet. Wenn Kinder eine Schule besuchen, werden sie aus ihrer
Lebens- und
Lernsituation entfernt und in eine völlig neue, irreale Lebenswelt
versetzt.
Diese neue Lebenswelt, die fälschlicherweise als "Lernen"
bezeichnet
wird, erfordert eine andere Palette an relativ passiven
Verhaltensweisen,
instrumentiert von einem unbekannten Erwachsenen und dirigiert von
einem
Gesamtplan, der den Kindern ebenfalls unbekannt bleibt.2
Jegliches
echtes Lernen, das
unter solch ineffizienten und ungleichen Umständen stattfindet,
ist
allerhöchstens zufällig. Es erscheint sehr ineffizient,
neugierige und
hochmotivierte Kinder in eine betäubende und entmenschlichende
Atmosphäre zu
bringen, deren Aufrechterhaltung ihre Passivität erfordert, und
sie dann
künstlich zu motivieren, auf eine eingeschränkte, eingeteilte
Weise nach einem
willkürlichen, bürokratischen Zeitplan etwas über die
Welt zu lernen. Eine
Mutter formuliert es so: "[Unser Leben ohne Schule] begann als der
Kindergarten uns dabei in die Quere kam, zuzusehen, wie ein
Einkaufszentrum
gebaut wurde. Wir haben uns fürs Zuschauen entschieden."3
Die
Ansicht, dass Kinder von
innen heraus gesteuerte, denkende, fühlende Wesen sind, vertreten
nicht nur
Familien, deren Kinder keine Schule besuchen. Diese Vorstellung findet
man auch
bei Pädagogen wie Jean-Jacques Rousseau, Pestalozzi, Susan Isaacs
und Fröbel.
Das Werk Fröbels, der selbstgesteuerte Aktivitäten für
Kinder favorisierte,
beeinflusst seit rund einem Jahrhundert die Kleinkinderpädagogik
in
Nordamerika. Viele Kindergarten-Klassen an öffentlichen Schulen
spiegeln seine
Philosophie wieder.4 Piaget war auch
der Ansicht, dass Kinder von
innen heraus angetrieben werden. Er schrieb darüber, wie wichtig
es ist, dass
Kindern die Möglichkeit gegeben wird, selbstbestimmt mit ihrer
Umwelt zu
interagieren, ihren eigenen
Entwicklungsprozess und ihr eigenes Tempo zu bestimmen. Die Missachtung
dieses
wichtigen Konzeptes in unseren Schulsystemen hat zum Testen, Messen und
Benoten
von Kindern geführt und sie manchmal unangebrachten Programmen
unterzogen.5
Wie bereits angemerkt wurde, ist der Prozess des Lernens oft wichtiger als der Inhalt. Der Erhalt der Liebe zum Lernen und der Kreativität – ebenso wie das Entwickeln von Strategien zur Lösung von Problemen und zum Finden von Informationen – sind manchmal von größerer Bedeutung als die konkreten Fakten, welche es zu lernen gilt. Eltern unbeschulter Kinder erkennen, wie anfällig diese Qualitäten sind und wie schnell sie zerstört werden können durch das erzwungene Unterrichten von Themen, die Kinder nicht interessieren oder die sie noch nicht bereit sind zu lernen. Sie erkennen auch, dass Fakten und Fähigkeiten einfacher behalten werden, wenn sie in einem Zusammenhang gelernt werden, der für das tägliche Leben des Kindes und für seine Erfahrungswelt relevant ist.
Unglücklicherweise
hat das
strukturierte Bildungssystem ein Monopol auf überprüfbares
Wissen. Durch die
Anwesenheitspflicht, die dazu führt, dass ebenso viel Energie und
Zeit in die
Aufpasserrolle wie in die Bildung investiert wird, und durch das
Testen, die
Vergabe von Noten und Zeugnissen kontrollieren diese Institutionen
gewissermaßen den Lernprozess und standardisieren, was Kinder
lernen. Einige
Kritiker sind überzeugt, dass diese Standardisierung verhindert,
dass die
Schüler ausreichend Information über die Funktionsweise der
Welt erfahren, um
sie verstehen oder ändern zu können. Das Ergebnis ist die
Erhaltung
des Status Quo.
Das Ziel des Lebens ohne Schule ist dagegen, den Kindern ein
möglichst breites
Bild der Welt zu präsentieren.
Starke
Einwände gegen den
Zwangscharakter der Schule liefern ein weiteres starkes Argument
für die Wahl
des informellen Lernens ohne Schule. Für einige ist die
bloße Tatsache, dass
Bildung gesetzlich vorgeschrieben ist, ein Anzeichen für das
Misstrauen
gegenüber Kindern und ihrem Verlangen, die Welt zu verstehen.
Müsste der Staat
nicht eigentlich die gesetzlich vorgeschriebene, von außen
aufgezwungene
Bildung abschaffen, wenn es ihm wirklich ernst ist mit seinem
proklamierten
Ziel, die intellektuelle und moralische Unabhängigkeit der Jugend
zu
entwickeln, zu fördern und zu steigern?
Eltern
unbeschulter Kinder sehen
die Selbstbestimmung als die volle Entwicklung der Fähigkeit eines
Kindes an,
eigenständig zu denken, Urteile zu fällen, Entscheidungen zu
treffen und zu
handeln. Wenn die Selbstbestimmung als Bindeglied zwischen Intellekt
und
verantwortlichem Handeln gesehen wird, wie kann sie dann in einer
Atmosphäre
des Zwangs gefördert werden? Wie kann Unabhängigkeit in einer
Atmosphäre der
Abhängigkeit gefördert werden?
Viele
Befürworter des Lebens
ohne Schule sind der Ansicht, dass das Recht auf Selbständigkeit
und
eigenständiges Handeln durch die Bildungspflichtgesetze
eingeschränkt werden
könnte. In unserer Gesellschaft sind die Rechte von Kindern im
Allgemeinen
nicht das Hauptaugenmerk der meisten Menschen. Wenn überhaupt
über die Rechte
von Kindern gesprochen wird, dann üblicherweise im Zusammenhang
mit ihrem
Schutz, nicht im Zusammenhang mit wahrer Unabhängigkeit: das Recht
auf Bildung
wird diskutiert, das Recht auf Schutz vor Missbrauch, und so weiter.
Die
Befürworter des Lebens ohne Schule, denen ebenfalls die Rechte der
Kinder am
Herzen liegen, bestreiten nicht die Notwendigkeit, Kinder zu
schützen oder für
ihre Belange einzutreten, doch sie gestehen den jungen Menschen auch
zu, was in
der Definition von Schutz zu fehlen scheint: Respekt:
Tatsächlich
leiden Kinder
stark, wenn auch oft beinahe unmerklich, unter dem Mangel an Respekt
und
Selbstbestimmung in Schulen. Die konventionelle Einstellung Kindern
gegenüber
scheint zu sein, dass sie Gegenstände sind, mit denen man auf die
eine oder andere
Weise umgehen muss. Dies nimmt unterschiedliche Formen an, vom Einsatz
von
Verhaltenspsychologie, um im Klassenzimmer für ein Verhalten zu
sorgen, das für
den Lehrer akzeptabel ist, bis hin zum Festlegen des Lehrplans von oben
herab. Kein
Erwachsener würde solche Beschränkungen seiner
persönlichen Freiheit
hinnehmen, wenn er der Schule einmal entkommen ist. Warum werden dann
bei
Kindern andere Maßstäbe angelegt? Wird die Bildung
gefördert durch ein System,
das der Anwesenheit oft mehr Bedeutung zumisst als dem Lernen? Muss ein
Schüler
die Kontrolle über einen Teil seines Lebens aufgeben, damit er ein
Abschlusszeugnis erhält, das vermeintlich der Schlüssel zu
einem gut bezahlten
Job sein wird? Natürlich ist die fehlende Kontrolle über den
Lehrinhalt oder
die Lehrmethode nicht auf Menschen unter sechzehn Jahren
beschränkt. Die
meisten Universitäten sind fast genauso unflexibel. Aber
Erwachsene können den
Kurs oder die Institution wechseln oder dem Ganzen angewidert den
Rücken
zukehren, während Kinder diese Möglichkeit nicht haben, es
sei denn ihre
Familie hat das Lernen ohne Schule entdeckt. So ist es das Bestreben
einiger
Eltern, die die Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder
übernehmen, ihren
Kindern die Kontrolle zu verschaffen. Von den Schulpflichtgesetzen,
welche die
Grundlage der formalisierten Bildung sind, bis hin zu den Vorkommnissen
des
täglichen Lebens wollen diese Eltern ihren Kindern helfen, ihre
eigenen
Entscheidungen zu treffen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen.
Kinder,
deren Familien sich
für das Leben ohne Schule entschieden haben, lernen und behalten
im allgemeinen
eine ganze Palette an Fakten und Fähigkeiten und erzielen gute
akademische
Ergebnisse. Die Vorteile des Einzelunterrichts, die Zeit und der Raum,
den Sinn
der Welt zu erfassen, und das Ausbleiben von Leistungsdruck – all dies
trägt zu
einem akademischen Fortschritt bei, der oft über den der
gleichaltrigen
Kameraden im Schulsystem hinaus geht. Die Zahl der früher
unbeschulten Kinder,
die die Oberstufe besuchen und dort ausgezeichnete Noten in
anspruchsvollen
Kursen erzielen und extensiv an Aktivitäten außerhalb des
Unterrichts
teilnehmen, spricht eindeutig für diese Art der Bildung.
Unbeschulte
Kinder erhalten sich
ihre Freude am Lernen, ihre Neugierde und den Eifer ihr Wissen zu
erweitern
(oder sie erlangen [diese Eigenschaften] wieder, je nachdem, wie der
Fall
liegen mag). Was in der Schulumgebung als Verhaltens- oder
Lernstörung
angesehen wurde, erweist sich im häuslichen Umfeld häufig als
irrelevant. Das
liegt daran, dass unbeschulte Kinder ihrem natürlichen Drang zu
lernen in ihrem
eigenen Rhythmus nachgehen können, ungehindert von dem Tempo, das
schneller
oder langsamer lernende Schüler im gleichen Klassenraum vorgeben
mögen.
Der Lernprozess,
wie er von Pädagogen verstanden wird, kann in drei
unterschiedliche
Bestandteile unterteilt werden: systematischer, geplanter Unterricht,
Teilnahme
an problem- und aufgabenorientierten Aktivitäten und Reflexion.
Eine der Stärken
des Lernens ohne Schule ist, dass es ausgiebig Gelegenheit für die
Aspekte des
Tuns und des Nachdenkens im Bildungsprozess bietet, und genauso
für den Bereich
des geplanten Unterrichts, auf den sich Schulen häufig
beschränken. Weil sie
sehr breit konzipiert sind, sind Schulen größtenteils das
Produkt eines
Kompromisses. Der Mangel an Zeit für reflektierende und
experimentierende
Aktivitäten ist ein unglückliches Resultat dieses
Kompromisses. Es gibt so
viele Kinder aus unterschiedlichen Verhältnissen, mit
unterschiedlichen
Interessen und unterschiedlichen akademischen Fähigkeiten, und so
viele
administrative und bürokratische Aufgaben, dass der
Frontalunterricht meistens
die Norm ist.
Teil
des Reizes des Lebens
ohne Schule ist seine Tendenz, das Familienleben zu verbessern und
aufrecht zu
erhalten, weil mehr Zeit für gemeinsame Aktivitäten zur
Verfügung steht, die
die Familienmitglieder einander näher bringen. Im Leben von
Familien mit Schulkindern
dreht sich häufig alles um die Schule und es bleibt wenig Zeit
für anderes.
Wenn die Kinder um vier Uhr aus der Schule kommen,
bleibt zwischen Abendessen, Hausaufgaben und
Zu-Bett-Gehen nicht viel Zeit für die Familie, gemeinsame
Interessen zu
entwickeln oder auch nur die Beziehungen untereinander aufrecht zu
erhalten.
Das entspanntere Tempo des Lebens ohne Schule ermöglicht enge
Beziehungen und
Rund-um-die-Uhr-Lernen als Resultat eines breiten Spektrums von
Aktivitäten im
Kreise der Familie.
In
der Tat ist das Leben ohne
Schule in einer wachsenden Anzahl von Familien eine Fortsetzung des
familienorientierten Lebensstils, der mit der Geburt zu Hause und der
daraus resultierenden
frühen Bindung, mit dem Stillen und so weiter begann.
Erkenntnissen
von Raymond und
Dorothy Moore zufolge ist das Unbehagen, das viele Mütter
empfinden, wenn sie
ihre Kinder in die Vorschulklasse schicken, sobald sie fünf Jahre
alt werden,
sehr wohl begründet und sollte ernst genommen werden.
Raymond
Moore ist ein
Entwicklungspsychologe, der umfangreiche Studien über die Familie
und die
Schule durchgeführt hat. Seine Frau Dorothy Moore arbeitet im
Bereich der
Leseforschung. Ihre Forschung auf dem Gebiet der frühen Kindheit
erwuchs aus
Erlebnissen im Klassenzimmer, wo sie Kinder beobachteten, die sich
daneben
benahmen oder nicht lernten, weil sie für die Anforderungen der
formalen
Beschulung noch nicht bereit waren. Nachdem sie Tausende von Studien
über die
frühe Kindheit analysiert hatten, sind die Moores zu dem Schluss
gekommen, dass
Kinder vor einem Alter von mindestens neun Jahren keinen formellen
Lernsituationen ausgesetzt werden sollten.
Die
Moores fanden heraus, dass
die meisten Kinder, die im Alter von vier, fünf oder sechs Jahren
in die Schule
kamen, der Schule müde werden, bevor sie die dritte oder vierte
Klasse
abgeschlossen haben, der Zeitpunkt, zu dem Kinder ihrer Ansicht nach
gerade
erst mit ihrem formellen Unterricht beginnen sollten. Ihre
Forschungsergebnisse
haben sie überzeugt, dass diese Spät-Starter sehr schnell
ihre früher beginnenden
gleichaltrigen Kameraden im Lernen, in ihrem Verhalten und in ihrer
Geselligkeit überholen würden.
Die
Basis für die Anregung von
Dr. Moore, formales Lernen hinauszuzögern, ist seine Erkenntnis,
dass das Seh-
und Hörvermögen von Kindern und ihre anderen Sinne bis zum
Alter von acht oder
neun Jahren nicht bereit sind, in kontinuierlichen formalen Kursen zu
lernen.
Darüber hinaus bieten laut Dr. Moore weder die Reife ihres
empfindlichen
zentralen Nervensystems noch das „Austarieren“ ihrer beiden
Gehirnhälften vor
Erreichen dieses Alters eine Basis für kognitives Lernen6.
Das Werk einer Reihe von anderen Bildungsforschern und –philosophen
bestätigt diese Erkenntnisse. So schrieb Jean Piaget
beispielsweise, dass
Kinder den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht konsistent
erfassen
können, bevor sie zehn oder elf Jahre alt sind.
Einige
moderne traditionell
denkende Pädagogen stimmen Piaget ebenfalls zu. Wayne Adair,
Bildungspsychologe
beim Ministerium für Erziehung und Bildung von Saskatchewan, wurde
in der
kanadischen Presse wie folgt zitiert: „In allen Studien erbrachten die
jüngeren
Schulanfänger später niedrigere akademische Leistungen, sie
wiesen mehr Schul-
und soziale Anpassungsprobleme auf, die sich manchmal bis in das
Erwachsenenalter fortsetzten, und es gab unter ihnen eine
unverhältnismäßig
hohe Zahl von Schulversagern.“ Adair sagte weiterhin, dass Eltern ihr
Kind
nicht einer strukturierten Schulumgebung aussetzen sollten, bevor es
nicht dazu
bereit sei. „Es geht um Reife, nicht um Intellekt. Wir können
nicht verhindern,
dass Kinder lernen, aber wir können sie auch nicht dazu zwingen.
Wir sprechen
über individuelle Unterschiede und dann stecken wir Kinder in eine
strukturierte Umgebung und erwarten, dass sie alle zur gleichen Zeit
aus einer
engen Röhre herauskommen.“7
Aus
den allgemeinen
Erkenntnissen dieser Pädagogen über die Entwicklung von
Kindern entstand das
Konzept von der Individualität in der Bildung – die Einsicht, dass
der Lernstil
eines jeden Menschen einzigartig ist. Wir unterscheiden uns darin, was
wir
lernen wollen, und darin, wie, wann, wo und wie wir lernen. Wenn auch
die
meisten Kinder am besten lernen, wenn sie einfach in ihrem eigenen
Tempo ihren
Interessen nachgehen, werden einige zu bestimmten Zeiten in ihrem Leben
davon
profitieren, in einem regulären Klassenzimmer an einem
festgelegten
Kursprogramm teilzunehmen. Das Fazit des Ganzen ist, dass man Kinder
nicht als
Produkte irgendeines Bildungssystems oder einer Bildungsphilosophie
sehen sollte.
Sie sind vielmehr Kunden. Familien mit unbeschulten Kindern und
Beschäftigte
von Bildungseinrichtungen gleichermaßen müssen
zusammenarbeiten, um das
allmähliche, kontinuierliche Wachstum aller Kinder
sicherzustellen, damit diese
mit ihrem Leben heute und in der Zukunft zurechtkommen. Unabhängig
von unserer
Einstellung können wir in der Bildung des Kindes von heute nicht
die
Methoden von
gestern einsetzen.
1
John Dewey: Democracy and Education,
New York: MacMillan, 1916.
2
Lillian Weber: The Rationale of
Informal Education, in: The Open Classroom Reader / herausgegeben von
Charles
E. Silberman. New York: Random House, 1973.
3
Deschooling Parent, aus einem
Fragebogen zum Leben ohne Schule, entworfen von der Autorin, 1984-5.
4
Jean Piaget: The Child and Reality.
New York: Grossman, 1973.
5
ibid.
6
Raymond Moore und Dorothy Moore: Better
Late Than Early, New York: Readers Digest-McGraw Hill, 1976, und School
Can
Wait, Utah: Brigham Young University Press, 1979.
© Copyright 1987 und 1995 Wendy Priesnitz
Auszug
aus "School
Free - The Homeschooling
Handbook", Kapitel 1, S. 10 - 19, The Alternate Press
– mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Aus dem Englischen übertragen von S. Mohsennia.
Wendy
Priesnitz ist Gründerin
der "Canadian Alliance of Home Schoolers" und Herausgeberin der
Zeitschrift "Life
Learning".