Leben ohne Schule - warum?
von Wendy Priesnitz

Es steckt eine Ironie in der Einstellung unserer Gesellschaft zu der Erziehung von Kindern. Wir ermuntern Eltern, kleine Kinder beim Erlernen zwei der schwierigsten und wichtigsten Dinge zu unterstützen, die sie je lernen werden: Laufen und Sprechen. Des Weiteren werden grundlegende Aspekte zum Erhalt unseres Lebensstils wie beispielsweise Werte, Einstellungen, Traditionen und Gebräuche ebenfalls zunächst und am besten innerhalb der Familie erlernt. Dann plötzlich, wenn ihre Kinder ein bestimmtes magisches Alter erreicht haben, wird Eltern unterstellt, dass sie nicht mehr fähig sind, den Bildungsprozess ihrer Kinder zu dirigieren.

Warum gehen wir davon aus, dass Fünfjährige nicht länger auf die gleiche Weise lernen können, wie sie es mit vier Jahren konnten, und statt dessen einen strukturierten Lehrplan brauchen, der von speziell geschulten und staatlich geprüften Erwachsenen unterrichtet wird? Die überwiegende Mehrheit erarbeitet sich ausreichende Kompetenz im Laufen und Sprechen, um von der Stelle zu kommen und miteinander kommunizieren zu können. Die meisten von uns werden gar Meister auf diesen beiden Gebieten. Andererseits wird ein alarmierend hoher Anteil unserer Bevölkerung als funktionale Analphabeten eingestuft – sie haben die schultypischen Fächer nicht gut genug gelernt, um zurecht zu kommen.

Wenn wir darüber nachdenken, warum Menschen Laufen und Sprechen lernen können, aber häufig Schwierigkeiten haben, Schreiben, Rechnen und Lesen zu lernen, müssen wir die unterschiedlichen Umstände berücksichtigen, unter denen sie versuchen, sich diese Fähigkeiten anzueignen. Wenn die meisten Kinder Laufen lernen, sind sie umgeben von Zuspruch und positiven Erwartungen. Sie können in ihrem eigenen Tempo Fortschritte machen; das Lernen wird von ihrem eigenen inneren Lehrplan und von der Beobachtung anderer Menschen unterschiedlichen Alters in der Familie gelenkt. Und sie haben den Willen zu lernen, da sie wissen, wie nützlich und wichtig diese Fertigkeit für sie sein wird. Aber leider lehren Schulen in den meisten Fällen Schreiben, Rechnen und Lesen nicht auf diese Weise. Wir erkennen ohne Zögern an, dass kleine Kinder zum Lernen keinen Ansporn brauchen; was wir vergessen haben ist, dass sie nicht unbedingt ihren Enthusiasmus verlieren und des Lernens überdrüssig werden müssen, wenn sie älter werden. Wenn ihr Lernen von Freude geprägt ist und ihre Umgebung voller Anregungen ist, werden sie Wissenssuchende bleiben.

Haben wir den Auftrag erteilt, dass Kinder ihre Tage von neun bis vier in bestimmten von offizieller Seite ausgewiesenen Gebäuden verbringen sollen, als wir die Schulpflichtgesetze verabschiedet haben, oder war es unsere Absicht, dass Kindern Möglichkeiten im Bereich der Bildung geboten werden? Es ist möglich, dass die Annahme, Kinder müssten ab einem Alter von fünf oder sechs eine Schule besuchen, um zu lernen, nicht nur aus pädagogischen Überlegungen heraus entstanden ist. Sie könnte auch sozialen oder psychologischen Erwägungen entspringen, die es nicht nur unerwünscht, sondern auch gesellschaftlich inakzeptabel machen, dass sie den Großteil des Tages zu Hause bei ihren Eltern verbringen. Als Gesellschaft machen wir uns Gedanken über die sogenannte "ungesund" enge Beziehung zwischen Mutter und Kind, die Visionen von "erstickender Liebe" und einer Vielfalt psychologischer Komplexe hervorruft.

So hat sich eine Art Legende um den Ersten Schultag gebildet, er ist regelrecht zu einem Übergangsritual geworden, der entscheidende Moment zum Durchschneiden der Schürzenbänder, ein erwünschter erster Schritt weg von der Familie, in Richtung Selbständigkeit. Die Tatsache, dass die Trennung sich zu einem Zeitpunkt ereignet, zu dem das Kind emotional, psychologisch oder pädagogisch gesehen noch nicht dazu bereit ist, scheint wenig Einfluss auf das Alter zu haben, welches das Bildungssystem für dieses Ritual wählt. In unserer Ära des gehetzten Kindes gilt die Devise: "Je früher, desto besser."

Ein weiterer Faktor, der uns darin bestärkt, unsere Kinder in immer jüngerem Alter formellen Lernsituationen auszusetzen, ist der Mangel an Verständnis und Akzeptanz (sowohl durch das Bildungssystem als auch durch die allgemeine Öffentlichkeit) des Phänomens 'Spontanes Lernen'. Wenn Kinder klein sind, bemerken wir einen großen Teil ihres Lernens nicht. Das frühe Lernen vieler komplizierter Konzepte findet eher spontan statt, als Resultat von Verlangen und Neugierde. Und das Leben ohne Schule hat gezeigt, dass Kinder weiterhin auf diese Weise lernen können während sie heranwachsen – wenn ihnen erlaubt wird, ihrer Neugierde in einer Umgebung nachzugehen, die, ihrem Alter entsprechend, ebenso unterstützend und stimulierend ist wie die Umgebung, welche die meisten Eltern ihren Babys bieten.

Und so tut sich vor einigen Eltern, die nach besseren und natürlicheren Wegen suchen, ihre Kinder beim Aufwachsen zu unterstützen, die Alternative des Lernens ohne Schule auf. Ihre jeweiligen Gründe und Spezifika mögen sie sich unterscheiden, aber diese Familien haben alle den Wunsch gemeinsam, über die Erfahrung der konventionellen Schule hinauszugehen und ihren Kindern zu bieten, was auch immer ihrer Definition einer besseren Bildung entspricht.

Es ist schwierig, generelle Aussagen über Familien zu treffen, deren Kinder keine Schule besuchen, weil sie solch eine große Bandbreite an philosophischen, religiösen und pädagogischen Einstellungen, an Lebensstilen und an finanziellen Situationen abdecken. Aber zwei grundlegende Kräfte treiben die Bewegung an: der positive Wunsch, die Bildung ihrer Kinder zu verbessern, und das eher negative Bestreben, dem formellen Bildungssystem zu entkommen.

Unterschiede in der Definition

Wenn man versucht, die Motivation hinter dem Leben ohne Schule zu verstehen, ist es sinnvoll, über die Unterschiede zwischen den Begriffen "Lernen", "Bildung" und "Schule" nachzudenken. Der renommierte amerikanischen Bildungsphilosoph John Dewey definiert Lernen als einen persönlichen Entwicklungsprozess, der auf Erfahrungen zurückzuführen ist. Er beschrieb es als "eine Rekonstruktion oder Reorganisation von Erfahrungen, welche die Bedeutung der Erfahrung erhöht und die Fähigkeit verstärkt, den Verlauf nachfolgender Erfahrungen zu steuern."1

Wenn Lernen der innerliche Prozess des Verstehens der Welt und des Erwerbs jenes Vertrauens ist, das zur Erforschung ihrer Arbeitsweise notwendig ist, dann ist Bildung, Deweys Gedanken weiterverfolgend, das absichtliche Beeinflussen dieses Prozesses. Die lateinische Wurzel des Wortes 'education' [Bildung] ist 'educare', welches einen Prozess suggeriert, bei dem der Lernende unterstützt wird, seine eigene natürliche Fähigkeit zu entwickeln, die Welt zu entdecken und zu verstehen. Schule ist nur das organisierte Programm, das die Gesellschaft sich ausgedacht hat, um Bildung auszuteilen. Und der Lehrplan ist das Mittel, das Schulprogramm zu organisieren.

Diese willkürliche Einordnung des Wissens in ein organisiertes Programm mit bestimmten Fächern ist der zentrale Punkt der Unzufriedenheit vieler mit dem strukturierten Bildungssystem. Sie sind der Meinung, dass die wahre Definition des Lernens vorschreibt, dass jeder Einzelne sich seinen persönlichen Lernplan zusammenstellen muss, und nicht einige Menschen das Recht haben sollten anzuordnen, was andere lernen sollen und wann. Sie lehnen die Einstellung ab, dass wirkliches Lernen nur das Ergebnis der Lehrtätigkeit eines Lehrers in einem formellen Rahmen sein kann, der auf diese Aktivität ausgerichtet ist, und dass das, was wir selbst lernen, unwichtig ist. Unsere Gesellschaft ist nicht daran gewöhnt, Kindern zu vertrauen, dass sie die Welt selbst ergründen können, und hat das Gefühl, dass man sie zwingen muss, damit sie etwas lernen; dass Kinder Rohmaterial sind, welches von Experten geformt werden muss, leere Gefäße, die an einem Fließband gefüllt werden müssen.

Nathan Isaacs, britischer Autor und Pädagoge, der die Werke des Schweizer Psychologen Jean Piaget bekannt gemacht hat, hat das typische Klassenzimmer als "Spiegel-Welt" bezeichnet. Wenn Kinder eine Schule besuchen, werden sie aus ihrer Lebens- und Lernsituation entfernt und in eine völlig neue, irreale Lebenswelt versetzt. Diese neue Lebenswelt, die fälschlicherweise als "Lernen" bezeichnet wird, erfordert eine andere Palette an relativ passiven Verhaltensweisen, instrumentiert von einem unbekannten Erwachsenen und dirigiert von einem Gesamtplan, der den Kindern ebenfalls unbekannt bleibt.2

Jegliches echtes Lernen, das unter solch ineffizienten und ungleichen Umständen stattfindet, ist allerhöchstens zufällig. Es erscheint sehr ineffizient, neugierige und hochmotivierte Kinder in eine betäubende und entmenschlichende Atmosphäre zu bringen, deren Aufrechterhaltung ihre Passivität erfordert, und sie dann künstlich zu motivieren, auf eine eingeschränkte, eingeteilte Weise nach einem willkürlichen, bürokratischen Zeitplan etwas über die Welt zu lernen. Eine Mutter formuliert es so: "[Unser Leben ohne Schule] begann als der Kindergarten uns dabei in die Quere kam, zuzusehen, wie ein Einkaufszentrum gebaut wurde. Wir haben uns fürs Zuschauen entschieden."3

Die Ansicht, dass Kinder von innen heraus gesteuerte, denkende, fühlende Wesen sind, vertreten nicht nur Familien, deren Kinder keine Schule besuchen. Diese Vorstellung findet man auch bei Pädagogen wie Jean-Jacques Rousseau, Pestalozzi, Susan Isaacs und Fröbel. Das Werk Fröbels, der selbstgesteuerte Aktivitäten für Kinder favorisierte, beeinflusst seit rund einem Jahrhundert die Kleinkinderpädagogik in Nordamerika. Viele Kindergarten-Klassen an öffentlichen Schulen spiegeln seine Philosophie wieder.4 Piaget war auch der Ansicht, dass Kinder von innen heraus angetrieben werden. Er schrieb darüber, wie wichtig es ist, dass Kindern die Möglichkeit gegeben wird, selbstbestimmt mit ihrer Umwelt zu interagieren,  ihren eigenen Entwicklungsprozess und ihr eigenes Tempo zu bestimmen. Die Missachtung dieses wichtigen Konzeptes in unseren Schulsystemen hat zum Testen, Messen und Benoten von Kindern geführt und sie manchmal unangebrachten Programmen unterzogen.5

Wie bereits angemerkt wurde, ist der Prozess des Lernens oft wichtiger als der Inhalt. Der Erhalt der Liebe zum Lernen und der Kreativität – ebenso wie das Entwickeln von Strategien zur Lösung von Problemen und zum Finden von Informationen – sind manchmal von größerer Bedeutung als die konkreten Fakten, welche es zu lernen gilt. Eltern unbeschulter Kinder erkennen, wie anfällig diese Qualitäten sind und wie schnell sie zerstört werden können durch das erzwungene Unterrichten von Themen, die Kinder nicht interessieren oder die sie noch nicht bereit sind zu lernen. Sie erkennen auch, dass Fakten und Fähigkeiten einfacher behalten werden, wenn sie in einem Zusammenhang gelernt werden, der für das tägliche Leben des Kindes und für seine Erfahrungswelt relevant ist.

Unglücklicherweise hat das strukturierte Bildungssystem ein Monopol auf überprüfbares Wissen. Durch die Anwesenheitspflicht, die dazu führt, dass ebenso viel Energie und Zeit in die Aufpasserrolle wie in die Bildung investiert wird, und durch das Testen, die Vergabe von Noten und Zeugnissen kontrollieren diese Institutionen gewissermaßen den Lernprozess und standardisieren, was Kinder lernen. Einige Kritiker sind überzeugt, dass diese Standardisierung verhindert, dass die Schüler ausreichend Information über die Funktionsweise der Welt erfahren, um sie verstehen oder ändern zu können. Das Ergebnis ist die Erhaltung des Status Quo. Das Ziel des Lebens ohne Schule ist dagegen, den Kindern ein möglichst breites Bild der Welt zu präsentieren.

Selbstbestimmung

Starke Einwände gegen den Zwangscharakter der Schule liefern ein weiteres starkes Argument für die Wahl des informellen Lernens ohne Schule. Für einige ist die bloße Tatsache, dass Bildung gesetzlich vorgeschrieben ist, ein Anzeichen für das Misstrauen gegenüber Kindern und ihrem Verlangen, die Welt zu verstehen. Müsste der Staat nicht eigentlich die gesetzlich vorgeschriebene, von außen aufgezwungene Bildung abschaffen, wenn es ihm wirklich ernst ist mit seinem proklamierten Ziel, die intellektuelle und moralische Unabhängigkeit der Jugend zu entwickeln, zu fördern und zu steigern?

Eltern unbeschulter Kinder sehen die Selbstbestimmung als die volle Entwicklung der Fähigkeit eines Kindes an, eigenständig zu denken, Urteile zu fällen, Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Wenn die Selbstbestimmung als Bindeglied zwischen Intellekt und verantwortlichem Handeln gesehen wird, wie kann sie dann in einer Atmosphäre des Zwangs gefördert werden? Wie kann Unabhängigkeit in einer Atmosphäre der Abhängigkeit gefördert werden?

Viele Befürworter des Lebens ohne Schule sind der Ansicht, dass das Recht auf Selbständigkeit und eigenständiges Handeln durch die Bildungspflichtgesetze eingeschränkt werden könnte. In unserer Gesellschaft sind die Rechte von Kindern im Allgemeinen nicht das Hauptaugenmerk der meisten Menschen. Wenn überhaupt über die Rechte von Kindern gesprochen wird, dann üblicherweise im Zusammenhang mit ihrem Schutz, nicht im Zusammenhang mit wahrer Unabhängigkeit: das Recht auf Bildung wird diskutiert, das Recht auf Schutz vor Missbrauch, und so weiter. Die Befürworter des Lebens ohne Schule, denen ebenfalls die Rechte der Kinder am Herzen liegen, bestreiten nicht die Notwendigkeit, Kinder zu schützen oder für ihre Belange einzutreten, doch sie gestehen den jungen Menschen auch zu, was in der Definition von Schutz zu fehlen scheint: Respekt:

Tatsächlich leiden Kinder stark, wenn auch oft beinahe unmerklich, unter dem Mangel an Respekt und Selbstbestimmung in Schulen. Die konventionelle Einstellung Kindern gegenüber scheint zu sein, dass sie Gegenstände sind, mit denen man auf die eine oder andere Weise umgehen muss. Dies nimmt unterschiedliche Formen an, vom Einsatz von Verhaltenspsychologie, um im Klassenzimmer für ein Verhalten zu sorgen, das für den Lehrer akzeptabel ist, bis hin zum Festlegen des Lehrplans von oben herab. Kein Erwachsener würde solche Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit hinnehmen, wenn er der Schule einmal entkommen ist. Warum werden dann bei Kindern andere Maßstäbe angelegt? Wird die Bildung gefördert durch ein System, das der Anwesenheit oft mehr Bedeutung zumisst als dem Lernen? Muss ein Schüler die Kontrolle über einen Teil seines Lebens aufgeben, damit er ein Abschlusszeugnis erhält, das vermeintlich der Schlüssel zu einem gut bezahlten Job sein wird? Natürlich ist die fehlende Kontrolle über den Lehrinhalt oder die Lehrmethode nicht auf Menschen unter sechzehn Jahren beschränkt. Die meisten Universitäten sind fast genauso unflexibel. Aber Erwachsene können den Kurs oder die Institution wechseln oder dem Ganzen angewidert den Rücken zukehren, während Kinder diese Möglichkeit nicht haben, es sei denn ihre Familie hat das Lernen ohne Schule entdeckt. So ist es das Bestreben einiger Eltern, die die Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder übernehmen, ihren Kindern die Kontrolle zu verschaffen. Von den Schulpflichtgesetzen, welche die Grundlage der formalisierten Bildung sind, bis hin zu den Vorkommnissen des täglichen Lebens wollen diese Eltern ihren Kindern helfen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Hervorragende akademische Leistungen

Kinder, deren Familien sich für das Leben ohne Schule entschieden haben, lernen und behalten im allgemeinen eine ganze Palette an Fakten und Fähigkeiten und erzielen gute akademische Ergebnisse. Die Vorteile des Einzelunterrichts, die Zeit und der Raum, den Sinn der Welt zu erfassen, und das Ausbleiben von Leistungsdruck – all dies trägt zu einem akademischen Fortschritt bei, der oft über den der gleichaltrigen Kameraden im Schulsystem hinaus geht. Die Zahl der früher unbeschulten Kinder, die die Oberstufe besuchen und dort ausgezeichnete Noten in anspruchsvollen Kursen erzielen und extensiv an Aktivitäten außerhalb des Unterrichts teilnehmen, spricht eindeutig für diese Art der Bildung.

Der Zeitfaktor

Unbeschulte Kinder erhalten sich ihre Freude am Lernen, ihre Neugierde und den Eifer ihr Wissen zu erweitern (oder sie erlangen [diese Eigenschaften] wieder, je nachdem, wie der Fall liegen mag). Was in der Schulumgebung als Verhaltens- oder Lernstörung angesehen wurde, erweist sich im häuslichen Umfeld häufig als irrelevant. Das liegt daran, dass unbeschulte Kinder ihrem natürlichen Drang zu lernen in ihrem eigenen Rhythmus nachgehen können, ungehindert von dem Tempo, das schneller oder langsamer lernende Schüler im gleichen Klassenraum vorgeben mögen.

Der Lernprozess, wie er von Pädagogen verstanden wird, kann in drei unterschiedliche Bestandteile unterteilt werden: systematischer, geplanter Unterricht, Teilnahme an problem- und aufgabenorientierten Aktivitäten und Reflexion. Eine der Stärken des Lernens ohne Schule ist, dass es ausgiebig Gelegenheit für die Aspekte des Tuns und des Nachdenkens im Bildungsprozess bietet, und genauso für den Bereich des geplanten Unterrichts, auf den sich Schulen häufig beschränken. Weil sie sehr breit konzipiert sind, sind Schulen größtenteils das Produkt eines Kompromisses. Der Mangel an Zeit für reflektierende und experimentierende Aktivitäten ist ein unglückliches Resultat dieses Kompromisses. Es gibt so viele Kinder aus unterschiedlichen Verhältnissen, mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen akademischen Fähigkeiten, und so viele administrative und bürokratische Aufgaben, dass der Frontalunterricht meistens die Norm ist.

Familienleben

Teil des Reizes des Lebens ohne Schule ist seine Tendenz, das Familienleben zu verbessern und aufrecht zu erhalten, weil mehr Zeit für gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung steht, die die Familienmitglieder einander näher bringen. Im Leben von Familien mit Schulkindern dreht sich häufig alles um die Schule und es bleibt wenig Zeit für anderes. Wenn die Kinder um vier Uhr aus der Schule kommen,  bleibt zwischen Abendessen, Hausaufgaben und Zu-Bett-Gehen nicht viel Zeit für die Familie, gemeinsame Interessen zu entwickeln oder auch nur die Beziehungen untereinander aufrecht zu erhalten. Das entspanntere Tempo des Lebens ohne Schule ermöglicht enge Beziehungen und Rund-um-die-Uhr-Lernen als Resultat eines breiten Spektrums von Aktivitäten im Kreise der Familie.

In der Tat ist das Leben ohne Schule in einer wachsenden Anzahl von Familien eine Fortsetzung des familienorientierten Lebensstils, der mit der Geburt zu Hause und der daraus resultierenden frühen Bindung, mit dem Stillen und so weiter begann.

Bereitschaft

Erkenntnissen von Raymond und Dorothy Moore zufolge ist das Unbehagen, das viele Mütter empfinden, wenn sie ihre Kinder in die Vorschulklasse schicken, sobald sie fünf Jahre alt werden, sehr wohl begründet und sollte ernst genommen werden.

Raymond Moore ist ein Entwicklungspsychologe, der umfangreiche Studien über die Familie und die Schule durchgeführt hat. Seine Frau Dorothy Moore arbeitet im Bereich der Leseforschung. Ihre Forschung auf dem Gebiet der frühen Kindheit erwuchs aus Erlebnissen im Klassenzimmer, wo sie Kinder beobachteten, die sich daneben benahmen oder nicht lernten, weil sie für die Anforderungen der formalen Beschulung noch nicht bereit waren. Nachdem sie Tausende von Studien über die frühe Kindheit analysiert hatten, sind die Moores zu dem Schluss gekommen, dass Kinder vor einem Alter von mindestens neun Jahren keinen formellen Lernsituationen ausgesetzt werden sollten.

Die Moores fanden heraus, dass die meisten Kinder, die im Alter von vier, fünf oder sechs Jahren in die Schule kamen, der Schule müde werden, bevor sie die dritte oder vierte Klasse abgeschlossen haben, der Zeitpunkt, zu dem Kinder ihrer Ansicht nach gerade erst mit ihrem formellen Unterricht beginnen sollten. Ihre Forschungsergebnisse haben sie überzeugt, dass diese Spät-Starter sehr schnell ihre früher beginnenden gleichaltrigen Kameraden im Lernen, in ihrem Verhalten und in ihrer Geselligkeit überholen würden.

Die Basis für die Anregung von Dr. Moore, formales Lernen hinauszuzögern, ist seine Erkenntnis, dass das Seh- und Hörvermögen von Kindern und ihre anderen Sinne bis zum Alter von acht oder neun Jahren nicht bereit sind, in kontinuierlichen formalen Kursen zu lernen. Darüber hinaus bieten laut Dr. Moore weder die Reife ihres empfindlichen zentralen Nervensystems noch das „Austarieren“ ihrer beiden Gehirnhälften vor Erreichen dieses Alters eine Basis für kognitives Lernen6. Das Werk einer Reihe von anderen Bildungsforschern und –philosophen bestätigt diese Erkenntnisse. So schrieb Jean Piaget beispielsweise, dass Kinder den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht konsistent erfassen können, bevor sie zehn oder elf Jahre alt sind.

Einige moderne traditionell denkende Pädagogen stimmen Piaget ebenfalls zu. Wayne Adair, Bildungspsychologe beim Ministerium für Erziehung und Bildung von Saskatchewan, wurde in der kanadischen Presse wie folgt zitiert: „In allen Studien erbrachten die jüngeren Schulanfänger später niedrigere akademische Leistungen, sie wiesen mehr Schul- und soziale Anpassungsprobleme auf, die sich manchmal bis in das Erwachsenenalter fortsetzten, und es gab unter ihnen eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Schulversagern.“ Adair sagte weiterhin, dass Eltern ihr Kind nicht einer strukturierten Schulumgebung aussetzen sollten, bevor es nicht dazu bereit sei. „Es geht um Reife, nicht um Intellekt. Wir können nicht verhindern, dass Kinder lernen, aber wir können sie auch nicht dazu zwingen. Wir sprechen über individuelle Unterschiede und dann stecken wir Kinder in eine strukturierte Umgebung und erwarten, dass sie alle zur gleichen Zeit aus einer engen Röhre herauskommen.“7

Aus den allgemeinen Erkenntnissen dieser Pädagogen über die Entwicklung von Kindern entstand das Konzept von der Individualität in der Bildung – die Einsicht, dass der Lernstil eines jeden Menschen einzigartig ist. Wir unterscheiden uns darin, was wir lernen wollen, und darin, wie, wann, wo und wie wir lernen. Wenn auch die meisten Kinder am besten lernen, wenn sie einfach in ihrem eigenen Tempo ihren Interessen nachgehen, werden einige zu bestimmten Zeiten in ihrem Leben davon profitieren, in einem regulären Klassenzimmer an einem festgelegten Kursprogramm teilzunehmen. Das Fazit des Ganzen ist, dass man Kinder nicht als Produkte irgendeines Bildungssystems oder einer Bildungsphilosophie sehen sollte. Sie sind vielmehr Kunden. Familien mit unbeschulten Kindern und Beschäftigte von Bildungseinrichtungen gleichermaßen müssen zusammenarbeiten, um das allmähliche, kontinuierliche Wachstum aller Kinder sicherzustellen, damit diese mit ihrem Leben heute und in der Zukunft zurechtkommen. Unabhängig von unserer Einstellung können wir in der Bildung des Kindes von heute nicht die Methoden von gestern einsetzen.

1 John Dewey: Democracy and Education, New York: MacMillan, 1916.
2 Lillian Weber: The Rationale of Informal Education, in: The Open Classroom Reader / herausgegeben von Charles E. Silberman. New York: Random House, 1973.
3 Deschooling Parent, aus einem Fragebogen zum Leben ohne Schule, entworfen von der Autorin, 1984-5.
4 Jean Piaget: The Child and Reality. New York: Grossman, 1973.
5 ibid.
6 Raymond Moore und Dorothy Moore: Better Late Than Early, New York: Readers Digest-McGraw Hill, 1976, und School Can Wait, Utah: Brigham Young University Press, 1979.


© Copyright 1987 und 1995 Wendy Priesnitz
 

Auszug aus "School Free - The Homeschooling Handbook", Kapitel 1, S. 10 - 19, The Alternate Press – mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Aus dem Englischen übertragen von S. Mohsennia.

Wendy Priesnitz ist Gründerin der "Canadian Alliance of Home Schoolers" und Herausgeberin der Zeitschrift "Life Learning".